Uraltes Prinzip des Brückenbaus – Summe aller Stammbrüche

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Dieses robuste Exponat wird bei seiner Benutzung meistens im Flur aufgebaut, und zwar nicht weil es unangenehm riecht oder riesengroß ist, sondern ziemlich viel Lärm machen kann, wenn es nicht gelingt. Allerdings kann es dadurch auch beim Schulfest oder am Tag der offenen Tür Besucher in die Mathothek locken. Es handelt sich um einen Stapel einfacher, rechteckiger Holzplatten, die jeweils aus gleichem Holz gesägt wurden und die gleich lang, breit und dick sind.

Diese fünf Holzplatten sollen so auf eine Tischkante gestapelt werden, dass der oberste Stein möglichst weit über die Tischkante hinaus reicht. Da – vorhersehbar bei zu gewagten Bauten – die Teile von der Gravitation gezwungen werden, sich von der Tischplatte auf den Boden zu begeben, hallt der Fehlversuch durch das gesamte Treppenhaus. Ohne Zweifel wird dadurch der Ehrgeiz der Experimentatoren nicht gebremst, sondern zu einem erneuten Versuch angestachelt.

Tatsächlich führen bei diesem Experiment Kreativität, Erfolg und Rückschläge, aber auch Beobachtung und richtige Überlegungen zu interessanten Ergebnissen. Auf dem folgenden Bild ist ein gelungener Versuch zu sehen, wie bei einer nicht weiter eingeschränkten Bauweise mit drei Platten , eine so weit nach vorne geschoben werden kann, dass sie ganz über den Tischrand zu liegen kommt:

Die folgende eleganteste mathematische Lösung ist nicht die Siegerin in diesem Wettbewerb des Über-den-Tischrand-Hinauskragens:

Bei dieser mathematisch eleganten Methode geht man wie folgt vor: Man legt die Holzplatten genau aufeinander, und zwar so, dass die unterste Platte mit der Tischkante abschließt. Man schiebt dann die oberste Platte so weit nach vorne, dass der Stapel gerade noch liegen bleibt. Anschließend wird die zweite Platte von oben verschoben, und zwar wieder gerade so weit, dass der Stapel nicht abstürzt. Dabei bleibt die oberste Platte unverändert zur bewegten Stufe liegen. Dieses Verschieben des oberen nicht mehr verändert werdenden Stapelteils wird bis zur untersten Platte durchgeführt.

Bei diesem Stapelverfahren der Holzplatten ragt die oberste der fünf Platten mit ihrer gesamten Länge über den Tischrand. Wie viel diese Stufe über die Tischkante hinausragt, können wir berechnen. Die oberste Stufe reicht um ihre halbe Länge über die zweite von oben, die wiederum ragt um 1/4 über die unter ihr liegende hinaus, usw. Insgeamt ergibt das einen Überstand von 1/2+1/4+1/6+1/8=25/24=1+1/24.

Setzt man dieses Experiment in Gedanken weiter fort, so erhält man die folgende Summe von Bruchzahlen als Ergebniss der Strecke, die die oberste von den 6 Platten über den Tischrand ragen würde. Dazu erhalten wir den Ansatz und folgend Umwandlung:

1/2+1/4+1/6+1/8+1/10 =(1/1+1/2+1/3+1/4+1/5):2

Jetzt heben wir mithilfe der Logik völlig von der realen Machbarkeit ab und stellen uns die „verrückte“ Frage: Wie weit kommen wir, wenn wir immer weitermachen?

Dazu müssen wir also zuerst herausfinden, was

1/1+1/2+1/3+1/4+1/5+1/6+1/7+1/8+1/9+1/10+1/11+1/12+…

ergibt. Das bedeutet, wir müssen uns überlegen, wie groß die Summe aller Stammbrüche ist. Dabei sind Stammbrüche alle diejenigen Brüche mit dem Zähler 1. Einerseits gibt es nun, wie man sofort sieht, genausoviele Stammbrüche wie natürliche Zahlen, also unendlich viele, aber diese unendlich vielen Summanden werden kontinuierlich kleiner und kleiner.

Diese unendliche Summe aus den Stammbrüchen hat der Philosoph, Mathematiker und Universalgelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz untersucht und festgestellt, dass sie divergiert. Das bedeutet, dass man jede noch so große Zahl überschreitet, wenn man nur genügend weitere dieser Stammbrüche addiert. Wäre es also technisch möglich, eine solche Brücke zu bauen, so würde sie unendlich weit „über den Tischrand“ reichen. 

Der Beweis für diese Behauptung, dass die harmonischen Reihe, wie man diese Summe aus den unendlich vielen Stammbrüchen nennt, unendlich ist, kann man gut verständlich nachzuvollziehen. Als anschauliche Hilfe gibt es ein besonderes Objekt in der Mathothek:

Beweis:

Man überlegt sich, dass die folgenden Ungleichungen richtig sind.

1/1+1/2>1/2

1/3+1/4 >1/4+1/4=1/2

1/5+1/6+1/7+1/8>1/8+1/8+1/8+1/8=4⋅1/8=1/2

1/9+1/10+1/11+1/12+1/13+1/14+1/15+1/16>8⋅1/16=1/2

1/17+1/18+1/19+1/20+1/21+1/22+1/23+1/24+1/25+1/26+1/27+1/28+1/29+

1/30+1/31+1/32>16⋅1/32=1/2.

Wir erkennen hier das zugrundeliegende Prinzip: Die nächste Teilsumme beginnt mit 1/33 und endet mit 1/64, das sind 32 Summanden, die alle größer als 1/64 sind. Dann muss die nächste Teilsumme der harmonischen Reihe größer als 32⋅1/64, also auch größer als 1/2 sein. Somit erkennen wir, dass die harmonische Reihe größer als die unendliche Summe 1/2+1/2+1/2+1/2+1/2+1/2+… ist. Und da diese divergiert, d.h. größer als jede noch so große vorgegebene Zahl ist, kann auch die harmonische Reihe nicht endlich sein.

In diesem transparenten Umschlag befinden sich die Elemente dieses Exponates der Mathothek.

Es gibt zu diesem Thema noch ein weiteres Experiment. Mit einer Anzahl rechteckiger Sperrholzplatten gleicher Größe und Stärke soll diesmal eine Brücke konstruiert werden, die bei einem beliebigen Abstand zweier Tische den „Abgrund“ überbrückt. Das folgende Bild zeigt einen ersten Schritt, bei dem die Lücke, die breiter als eine Platte ist, mit drei Platten überbrückt wird:

Zur Frage nach dem größtmöglichen Abstand zwischen den beiden zu überbrückenden Tischen lässt es sich auch hier mutig experimentieren. Jede gute Lösung einer einseitig überhängenden Konstruktion kann natürlich zur Lösung der Überbrückung genutzt werden. Aus den mathematischen Erkenntnissen zur harmonischen Reihe gilt auch hier – wenn wir von der Unmöglichkeit einer technischen Realisierung absehen – kann bei einem symmetrischen Brückenbau nach den Regeln der harmonischen Reihe jede Distanz der beiden Tische überbrückt werden.

Dieses Prinzip, mithilfe von flachen plattenartigen Steinen Bögen und kuppelartige Wölbungen zu bauen, bezeichnet man mit kragen und ist sicher eines der ältesten Verfahren für die Konstruktion von Brücken oder einfachen Gewölben. Noch älter dürfte der Brückenbau mithilfe eines Stammes oder von Trittsteinen sein. Nachdem die in Architektur und Bauwesen ungemein fähigen Römer den Rundbogen erfunden und verbreitet hatten, erfolgte ein riesiger Fortschritt bei Brücken- und Gewölbekonstruktionen. Die Römer haben auch den Zement erfunden und genutzt. Damit waren sie es, die mit ihren Erfindungen die Grundlagen geschaffen haben, dass nach der Erfindung des Stahls die Möglichkeiten zum Bau von Brücken und Megabauten fast unbegrenzt wuchsen.

In der Mathothek gibt es auch noch einige weitere Exponate und auch Katalog-Artikel zum Thema Brücken, z.B. die Konstruktion nach Leonardo da Vinci:

Aber nicht nur:

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