Kaum etwas begeistert Menschen auf allen seinen Lebensstufen in der Natur so wie Blumen mit ihren Blättern und Blüten. Zunächst sind es die Farben und häufig der Duft der Blüten, die die Aufmerksamkeit des Menschen auf sich ziehen – fast so wie bei vielen Insekten. Während es für Bienen, Schmetterlinge und viele andere um Nahrungsbeschaffung geht, die mit dem Geschäft der Bestäubung bezahlt wird, ist das Interesse des Menschen hier meist ohne direkte Gewinnerwartung. Es geht ihm tatsächlich um die pure Schönheit, egal ob es sich um Wildblumen, wie Glockenblumen, Kornblumen oder Wildrosen, oder um hoch gezüchtete und in Gärten und Parks kultivierte Sorten, wie Hibiskus, Akelei oder Nachtschattengewächse geht. Nach Duft und Farbe beschäftigt ihn die Form der Blüte – und damit kommen wir dem goldenen Schnitt in der Natur auf die Spur, zumindest in einem großen Bereich. Sehr, sehr viele Blüten haben eine fünfzählige Drehsymmetrie. Entweder sind die Blüten nur drehsymmetrisch oder sie besitzen auch noch fünf Symmetrieachsen. Besitzen Pflanzen eine fünfzählige Symmetrie, dann tritt diese Art der Symmetrie auch bei den Früchten der Pflanzen auf, so z.B. bei der Sternfrucht. Die Apfelblüte hat eine fünfzählige Symmetrie, wie alle Rosengewächse, der Apfel selbst zeigt äußerlich wenig von einer solchen Symmetrie, dafür aber das innere Kerngehäuse.
Bei der schon früher sehr beliebten und verbreiten Zimmerpflanze, die gemeinhin als Wachs- oder Porzellanblume bekannt ist, ist die fünfzählige Symmetrie bei den Knospen besonders beeindruckend ausgeprägt. Faszinierend ist jedoch die Blüte mit ihrem „Fünfeck im Fünfeck“.
In allen solchen Blüten erkennt man schnell, dass ein regelmäßiges Fünfeck (Pentagon) dahinter steckt – und jedes regelmäßige Fünfeck enthält mehrfach die Teilung im goldenen Schnitt. Dazu muss man die Ecken des Pentagons durch die fünf Diagonalen verbinden, so erhält man ein Pentagramm (Drudenfuß).
Wenn eine Strecke im goldenen Schnitt geteilt wird, so verhält sich die größere Teilstrecke M zur kleineren Teilstrecke m wie die gesamte Strecke M+m zur größeren Teilstrecke M, d.h. M:m=(M+m):M oder auch (M+m):M=M:m.
Jede Seite des Fünfecks steht zu jeder Diagonalen im Verhältnis des goldenen Schnitts. Je zwei Diagonalen, die keinen gemeinsamen Anfangspunkt besitzen, teilen einander im goldenen Schnitt. Ein gleichschenkliges Dreieck, bei dem die Basis und ein Schenkel im Verhältnis des goldenen Schnitts stehen, nennt man ein goldenes Dreieck. Dabei kann die Basis die kürzere Teilstrecke oder auch die längere Teilstrecke des goldenen Schnitts sein. Beide Typen des goldenen Dreiecks sind oben zu finden. Da man in das innere Fünfeck wieder die Diagonalen und damit wieder ein Pentagram zeichnen kann, erhält man wieder goldene Dreiecke und somit goldene Schnitte. Verlängert man die Seiten des großen Pentagons, so erhält man wieder ein Pentagram. Beide Prozesse lassen endlos fortsetzen.
Hier noch ein interaktives Objekt der Mathothek zu Pentagon und Pentagram in der Blüte des kleinen weißen Immergrüns, die eine fünfstrahlige Drehsymmetrie, aber keine Achsensymmetrie besitzt.Das Objekt besteht aus einem Foto und einer durchsichtigen Folie, auf der ein passendes Pentagon mit Pentagram gezeichnet ist.
Besonders faszinierend ist auch die Stellung der Blätter an den Stängeln vieler Pflanzen und Bäumen, in der Biologie Phyllotaxis genannt. Bei vielen bilden zwei an einem Stängel aufeinander folgende Blätter einen Winkel von circa 137,5°. Beispiele dafür sind Buche und Haselnuss. Diesen Winkel erhält man durch Teilung des Vollwinkels von 360° im goldenen Schnitt: Nehmen wir für M+m den Vollwinkel von 360° und x für den gesuchten kleineren Teilwinkel m, so erhalten wir die Gleichung 360°:(360°-x)=(360°-x):x. Daraus folgt x≈137,5°.
Den Vorteil, den die Pflanzen mit diesen Blattabständen haben, liegt wohl u.a. in der besseren Lichtverteilung, so vermuten Biologen. Bei dieser Blattstellung kommt es nie vor, dass ein späteres Blatt sich genau über einem früheren befindet.
An den Blättern selbst kann man oft feststellen, dass Länge und Breite eines Blattes im Verhältnis des goldenen Schnitts stehen.
Aber nicht nur Blumen sind über ihre fünfzählige Symmetrie mit dem goldenen Schnitt verbunden, sondern auch verschiedene Seesterne. Sie haben keinen besonderen Duft oder auffälligen Farben, mit denen sie unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Es ist ihre äußere Form mit der besonderen Symmetrie. Denkt man sich die Spitzen des „Sterns“ geradlinig verbunden, so erhalten wir wieder regelmäßige Fünfecke, wie wir sie schon bei den Blüten kennengelernt haben.
Die Spirale der Nautilusschnecke ist zwar eine logarithmische Spirale, aber keine goldene Spirale. Im Bild ist die innere Struktur zu sehen mit den wachsenden Kammern, die in ihrem Aussehen immer ähnlich bleiben und so ein Fraktal bilden.
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Dividiert man zwei Zahlen der Folge der Fibonacci-Zahlen, und zwar eine Fibonacci-Zahl durch ihre Nachfolgerin, so erhält man eine Näherung an die goldene Zahl φ=0,618…, die immer besser wird, je größer man die Zahlen wählt. Die Fibonacci-Zahlen tauchen in der Natur recht häufig auf und sind meist leicht nachweisbar. Nimmt man diese Näherungen zu den Auftritten des goldenen Schnitts in der Natur hinzu, so erweitert sich das Feld enorm, z.B. bei Tannen-, Fichten-, Kieferzapfen, Ananas, Sonnenblumen, Artischocken u.v.m. Die Folge der Fibonacci-Zahlen beginnt mit 1, 1. Jede weitere folgende Fibonacci-Zahl ergibt sich als Summe der beiden vorausgehenden Zahlen: 2=1+1, 3=2+1, 5=3+2, 8=5+3, 13=8+5, 21=13+8, … .
Auch im Aufbau der DNA des Menschen gibt es den goldenen Schnitt in einer Näherung durch die Fibonacci-Zahlen 13, 21 und 34 zu entdecken. Bei der Doppelhelix beträgt die Breite der kurzen Furche 13Å und die Breite der langen Furche 21Å.
Am menschlichen Körper hat man immer wieder Proportionen gesucht, die ihn besonders ästhetisch wirken lassen und die man dann zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Zirkeln mehr oder weniger als gottgewollt gesehen hat, so z.B. der Unterarm zum gesamten Arm. Ebenso auch die Regel, dass der Nabel bei den meisten Menschen die Körpergröße im Verhältnis des goldenen Schnitts teilt. In diesem Zusammenhängen ist oft die genaue Festlegung der Messpunkte schon ein Problem. Im Fall des „goldenen Nabels“ dürfte das noch einigermaßen zu lösen sein.
In der unbelebten Natur ist der goldene Schnitt ziemlich unbekannt, was auch damit zusammenhängt, dass in ihr das regelmäßige Fünfeck so gut wie keine, dafür das regelmäßige Sechseck eine sehr große Rolle spielt. Das liegt wohl daran, dass sich die Ebene mit regelmäßigen Sechseck lückenlos und unbegrenzt bedecken lässt. Mit regelmäßigen Fünfecken ist das nicht möglich.
Pyritkristalle treten u.a. in der Form von nicht exakten Pentagon-Dodekaedern auf. Die Fünfecke, die die 12 Seiten bilden, sind nicht regelmäßig, wie man auf den Abbildungen sehen kann. Insofern sind sie kein geeignetes Argument für das Vorkommen des goldenen Schnitts in der unbelebten Natur.
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Dass der Mensch Symmetrien – gerade auch den goldenen Schnitt – gedanklich, also mathematisch, erfassen kann und in der Realität auszumachen versteht, hat ihm im Verlauf der Evolution offensichtlich mehr genutzt als geschadet. Dass es in der Natur nicht bis auf die Nachkommastellen stimmt oder sich auch nur zweifelsfrei nachweisen lässt, ist der Vorteil der Natur und des Lebens, die auf diesem Wege flexibel und anpassungsfähig bleiben.