Wer hat sie nicht schon irgendwo gesehen, die mehr oder weniger imposanten, von Menschen aus unregelmäßig abgerundeten Steinen aufgetürmten Steintürme an Flussufern? Je stabiler die Gleichgewichtslage der Steine ist, umso länger trotzen sie den Kräften von Wasser und Wind.
In der Mathothek gibt es etliche interessante Objekte, um mit mehr oder weniger stabilen Gleichgewichtslagen von Körpern bzw. Systemen zu experimentieren. So fordert das Dutzend Stapelsteine Torrino zum Bau von standfesten Türmen heraus, die nicht von selbst, wenn man sie loslässt, wieder auseinanderfallen. Die hölzernen Stapelsteine sind handliche, bunt lackierte und nicht besonders häufig vorkommende mathematische Körper. Sie sind alle verschieden. Ihre Begrenzungen bestehen aus ebenen Flächen, von denen manche paarweise parallel sind.
Die Aufgabe besteht nun darin, alle 12 Steine so aufeinanderzustapeln, dass ein stabiler Turm entsteht, d.h. er darf, wenn man ihn loslässt, nicht umfallen. Dazu bedarf es etlicher Fehlversuche, die von umstürzenden Türmen und logisch physikalischen Überlegungen angereichert werden. Aber die Freude ist dann groß, wenn der „Turm von Babylon“ stabil stehenbleibt.
Es ist wichtig, dass beim Bau des Turms die Steine sorgfältig und ausgewogen gestapelt werden, um ein stabiles Gleichgewicht zu erreichen. Je höher der Turm wird, desto schwieriger wird es, das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, da die Gewichtsverteilung präziser sein muss, um ein Umkippen zu vermeiden.
Das ist ein ästhetisch und physikalisch interessantes Experiment, und zwar durchaus nicht nur für Kinder. Gelingt das Vorhaben, führt das zum stolzen Gefühl des Gelingens und es wächst die Erfahrung mit labilem und stabilen Gleichgewicht:
Jeder Körper befindet sich zu einem gegebenen Zeitpunkt in einer bestimmte Lage. Er kann, wenn man ihn loslässt und er sich selbst überlassen bleibt, diese Lage ändern oder beibehalten – Turm stürzt ein oder bleibt aufrecht stehen. In der Physik spricht man in diesem zweiten Fall von stabilem oder labilem Gleichgewicht.
Nicht nur unser Torrino-Turm, sondern erst recht Gebäude, Türme, Krane oder Regale sollen standfest sein, also nicht umkippen. Entscheidend für die Standfestigkeit eines Körpers ist die Lage seines Schwerpunktes bezüglich seiner Auflagefläche. Ein Körper ist dann standfest, wenn die am Schwerpunkt angreifende Gewichtskraft durch die Auflagefläche verläuft. Der Körper befindet sich stets im stabilen Gleichgewicht.
Der Körper ist nicht standfest, wenn er, falls nicht zusätzliche Kräfte wirken, wie zum Beispiel Hände oder Stützen, umkippt und sich wieder in einem stabilen Gleichgewicht befindet.
Ein labiles Gleichgewicht eines Körpers liegt dann vor, wenn eine geringfügige Lageveränderung dazu führt, dass er sich weiter weg von der Ausgangslage bewegt, sobald er sich selbst überlassen wird, d.h. in unserem Fall, wenn von unseren Händen keine Kräfte mehr auf den Turmbau ausgehen. Darum geht es hier immer darum, dass der nächste Stein so auf den Turm gesetzt wird, dass diese kleine Veränderung wieder zu einem stabilen Gleichgewicht führt und er nicht umstürzt.
Die potenzielle Energie eines Turms aus Steinen hängt von seiner Höhe und der Lage seines Schwerpunkts ab. Bei einem stabilen Gleichgewicht, bei dem der Turm sicher und fest steht, ist die potenzielle Energie des Turms hoch. Je höher der Turm ist, desto größer ist seine potenzielle Energie. Dies liegt daran, dass die Steine gegen die Schwerkraft arbeiten müssen, um in ihrer Position zu bleiben.
Es gibt in der Mathothek noch weitere Herausforderungen an die ruhige Hand, die Geschicklichkeit und den Gleichgewichtssinn der Besucher:
Bei diesem Spiel – Stühle stapeln – geht es nicht darum, den möglichst höchsten Turm zu bauen, sondern möglichst viele kleine Plastikstühle auf einen Stuhl zu packen.
Mit Spielkarten oder mit quadratischen Bierdeckeln lassen sich nicht nur in der Mathothek möglichst hohe Kartenhäuser bauen, wenn man Geduld aufbringt und Geschick hat, mit jedem weiteren Schritt eine weitere Gleichgewichtslage zu erreichen und den Zusammenbruch des labilen Gebäudes zu vermeiden.
Vielleicht denkst Du beim Mikadospiel auch einmal an die Physik des Gleichgewichts. Bei diesem Geschicklichkeitsspiel geht es nicht um Aufbauarbeit, sondern um den schrittweisen Abbau eines im Gleichgewicht befindlichen Stäbchenhaufens. Gerät der wirre Stäbchenhaufen aus dem Gleichgewicht und sucht sich eine neue stabile Anordnung, so steigt der nächste Spieler in den Abbau ein. Daher versucht jeder Spieler Stäbchen für Stäbchen zu entfernen, ohne dabei das labile Gleichgewicht des Haufens zu stören. Es gibt zum Entfernen der Stäbchen erlaubte Möglichkeiten:
Mit der Hand: „Einsame“ Stäbchen einfach nehmen. Mehrere Stäbchen nebeneinander vorsichtig wegrollen. Freies Stäbchen zwischen anderen herausziehen. Stäbchen, die nur mit einem Ende den Boden berühren, aufstellen, indem man auf das spitze Ende drückt. Aufliegende Stäbchen entfernen, indem man gleichzeitig beide Enden berührt und es dann hochhebt.
Mithilfe des Mikados oder eines Mandarins: Wer bereits im Besitz eines solchen Stäbchens ist, kann einen dieser Stäbe als Helfer verwenden, indem er diesen als verlängerten und sehr dünnen Finger benutzt, z.B. mit der Spitze ein Stäbchen weg rollen oder unter ein Stäbchen gehen und dann hochwerfen.
Beliebt ist auch ein weiteres interessantes Gleichgewichtsspiel, das Scheibchen-Mikado, bei dem die potenzielle Energie der Kreisscheiben vom Druck einer Feder, statt von seiner Höhe kommt. Ähnlich wie beim Stäbchenmikado versuchen die Spieler der Reihe nach, Scheibchen zu entfernen, ohne das Gleichgewicht zu stören.
Dieses Spiel hat aber auch einen Zusammenhang mit dem Gleichgewicht von Kreis- und Kugelpackungen und ihrer dichtesten Packungsart, wie man es bei entsprechenden Experimenten in der Mathothek erfahren kann:
Durch rüttelnde Bewegungen der linken Kiste werden immer neue Zustände der Kugelmenge erzeugt, die einerseits immer weniger labil sind und andererseits immer mehr sich der Ordnung der dichtesten Packung annähern. Das gilt auch für die einschichtige Menge der eingeschlossenen und beweglichen blauen Glaskugeln:
Etwas Vorwissen oder kreative, logische Überlegungen und eine ruhige Hand braucht man auch für die weiteren Gleichgewichtsaufbauten, die viele Besucher der Mathothek faszinieren.
So beispielsweise die Aufgabe, mehrere Nägel auf der Spitze eines einzigen Nagels zu platzieren, also eine möglichst stabile Gleichgewichtslage herzustellen.
oder mehrere Holzstäbchen mit kugeligen Enden auf der Spitze eines einzigen Stabes ins Gleichgewicht zu bringen.
Dabei können einige andere Objekte der Mathothek sehr hilfreich sein. Hier lässt sich auch gut ein Zusammenhang zwischen Symmetrie und Gleichgewicht beobachten. Stabiles Gleichgewicht liegt bei solchen Objekten nur dann vor, wenn der Schwerpunkt des Objekt tiefer als der Stützpunkt liegt. Ist das nicht der Fall, so liegt nur ein labiles Gleichgewicht vor.
Ein ganz besonders faszinierendes Experiment in diesem Zusammenhang ist der Gömböc, diese besondere „Kugel“ fasziniert mit ihren erstaunlichen Bewegungen und verschiedenen Gleichgewichtszuständen. Dieses kugelähnliche Aluminiumkonstrukt gibt es in der Mathothek und ist in einem eigenen Artikel im Mathothekskatalog beschrieben.
Es gibt aber noch weitere Exponate in der Mathothek, bei denen es ebenfalls um ähnliche Experimente geht und deren Beschreibung ebenfalls im Katalog zu finden sind:
Konstruktion einer Leonardo-Brücke:
Brücken aus übereinander geschobenen Platten:
Stabilster Bogen – die Kettenlinie:
Übrigens finden viele junge und alte Besucher der Mathothek durch die Beschäftigung und eigenständige Auseinandersetzung mit den faszinierenden Experimenten – natürlich besonders durch Erfolge – zu stabilerem seelischen Gleichgewicht.