Nachdem man den Eingangsbereich des Mathematikums in Gießen betreten hat, fällt der Blick unvermeidlich auf eine vom Boden bis zur Decke reichenden Skulptur aus übereinander angeordneten großen Zahnrädern. Während man bei den unteren Zahnrädern Bewegung erkennt, scheinen die weiter oben befindlichen Räder unbeweglich zu sein.
Das Kunstwerk schlägt einen in seinen Bann: Was passiert hier? Wie funktioniert das? Was kann uns das Objekt vermitteln?
So entstand bei mir der Wunsch, ein kleines, aber interaktives Objekt zu machen, das ein tieferes Verständnis davon, was hier passiert, ermöglichen könnte.
Nach einer längeren kreativen Überlegungen fand ich bei meinem Haus- und Hoflieferanten in Wiesbaden – Bastlerquelle Stiefvater – die geeigneten Zutaten. Natürlich waren es vor allem die grundlegenden kleinen Zahnräder, die ich unbedingt benötigte.
Die weißen, kleinen Zahnräder sind alle gleich. Dabei besitzen sie ein größeres Rad mit 48 kleinen Zähnen und fest damit verbunden ein kleines mit 10. Die Räder sind nun so auf der Platte aufgereiht und drehbar befestigt, dass sie sich ein großes Rad mit dem benachbarten kleinen Rad dreht und auch umgekehrt.
Auf dem Brett sind nun jeweils zwei, drei, vier, fünf und acht Zahnrädchen hintereinander angeordnet. Die farbigen Punkte machen die Bewegungen der Räder in einer Folge beobachtbar. Dazu dreht man das erste Rad links oder das letzte Rad rechts. Die folgenden Bilder zeigen vier Zustände von vier verbundenen Zahnrädern. Das erste Bild zeigt die Ausgangsstellung der vier Räder
Dann wird das erste Rad (roter Punkt) gedreht. Dabei beobachtet man, dass jedes der folgenden drei Räder sich schneller als sein linker Nachbar dreht. Bei dem dritten und vierten Rad lassen sich die Punkte kaum noch als Punkte erkennen.
Hat das linke Zahnrad (roter Punkt) sich einmal um seine Achse gedreht, so drehte sich das benachbarte rechte (blauer Punkt) fast fünfmal und das dritte bereits fast 25-mal und damit das vierte (grüner Punkt) fasst 125-mal. Die angegebenen Umdrehungen wären genau 5-, 25-, und 125-mal, wenn das Verhältnis der Anzahl der Zähne 10 und 50 wären.
Hier sehen wir ein Bild von fünf sich in Folge bewegender Zahnräder. Deutlich sind hier die sich steigernden Drehgeschwindigkeiten zu beobachten. Dreht sich das erste Rad mit dem roten Punkt einmal um die eigene Achse, so macht das letzte mit dem grünen Punkt fast 625=5⋅5⋅5⋅5 Umdrehungen.
Bei den nächsten hintereinander gereihten zehn Zahnrädern lässt sich das erste Rad (roter Punkt) nicht mehr bewegen, weil der Reibungswiderstand zu groß ist. Drehen wir aber am äußersten rechten Zahnrad, so kommt Bewegung ins Spiel. Allerdings drehen sich jetzt die nachfolgenden Räder immer langsamer und langsamer. Damit kommen wir dem Geheimnis der Skulptur im Mathematikum näher und näher. Dreht sich das rechte Rad (grüner Punkt) jetzt einmal, so dreht sich sein linker Nachbar nur ein Fünftel um seine eigene Achse, das nächste Rad wiederum um ca. ein Fünftel usw. Damit das Rad am linken Ende der Reihe sich einmal dreht, muss das erste Rad von rechts sich ca. -mal gedreht haben, d. h. einer Drehung des „grünen“ Rads entspricht eine Teilumdrehung des „roten“ Rades von ca. (1/5)9=0,000000512 Umdrehungen, d.h. das Rad mit dem grünen Punkt müsste ca. 59=1.953.125 Umdrehungen machen, damit sich das Rad mit dem roten Punkt einmal gedreht hat. (Statt mit 10:48 habe ich hier mit 1:5 als Annäherung gerechnet. (4.89=1.352.605,461 und (1:4,8)9=0,000000739)
Als kleines Experiment soll der kleine Delphin die Drehrichtung des „grünen“ Rades vorgeben, um Veränderungen des „roten“ Rades irgendwann vielleicht doch zu beobachten.
Natürlich lassen sich auch mit den anderen ineinandergreifenden Zahnradanordnungen die exponentiell langsamer werdenden Bewegungen beobachten, wenn man das „grüne“ Rad dreht.
Unser Exponat macht uns erfahrbar, was hinter dem Räderwerk im Mathematikum in Gießen steckt, und die Informationen in dem Buch Wie man in eine Seifenblase schlüpft – Die Welt der Mathematik in 100 Experimenten von Albrecht Beutelspacher nachvollziehbar. Das Übertragungsverhältnis beträgt bei diesem kinetischen Kunstwerk 1:10, bzw. 10:1. Das zweitunterste Rad dreht sich einmal in der Minute um die eigene Achse und folglich das 26. (oberstes Rad) einmal in 1025 Minuten. Das entspricht mehr als einer Trillion (=1.000.000.000.000.000.000) Jahren! Das gesamte Universum ist dagegen „nur“ 14 Milliarden (=14.000.000.000) Jahre alt.
Dreht sich das unterste Zahnrad bei der Übersetzung von 10:1 zehnmal, so dreht sich das nächste nur einmal, das übernächste macht nur noch 1/10 einer Umdrehung, das über-übernächste damit nur noch 1/100 usw. Wir haben es hier mit „exponentiellem Abklingen“ zu tun. Und genauso unglaublich schnell eine exponentielle Funktion mit positivem Exponenten wächst, genauso unglaublich schnell nimmt eine exponentielle Funktion mit negativem Exponenten auch ab.
Es gibt in der Mathothek noch weitere Exponate, die mit Zahnrädern zum Experimentieren auffordern:
Kleinstes gemeinsames Vielfaches:
Nautilusgetriebe:
Ich lasse gerade Zahnräder anfertigen, die mir im Unterricht helfen sollen. Ich will den Kindern ein praktisches Beispiel für Übersetzungsverhältnisse geben. So verstehen Sie den Stoff hoffentlich etwas besser.