Die Künstlerin Ingrid Hornef aus Hofheim bringt immer wieder Kunst und Mathematik zusammen. Bei einigen ihrer Kunstobjekte hat sie dem Zufall in Gestalt eines Würfels eine wesentliche Rolle eingeräumt. So in ihrer Serie Konkreter Kunst „alea jacta est„. Die beiden Bilder zeigen aus einer Videoaufnahme die Künstlerin bei ihrem Schaffen und der Benutzung eines normalen Würfels:
Das interaktive Exponat der Mathothek, das von der Künstlerin angeregt wurde, besteht aus einem gerahmten Quadrat, zahlreichen kleinen weißen Quadraten mit verschiedenen Motiven, die gruppenweise miteinander kombinierbar sind, und einem normalen Würfel.
Ein Objekt im Sinne der Künstlerin entsteht dann dadurch, dass der Besucher sich sechs Motive auswählt und in eine Reihenfolge bringt. Anschließend werden diesen sechs Kärtchen die Zahlen eins bis sechs zugeordnet. Ab jetzt regiert nur noch der Zufall. Der Würfel entscheidet jetzt allein, welches Motiv als nächstes Kärtchen in das gerahmte Quadrat (von rechts nach links, von oben nach unten) gelegt wird.
Hier das erste Beispiel:
Und das zweite Beispiel:
So entsteht jedes Mal „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ ein einmaliges Kunstwerk:
Man erkennt bei jedem entstandenen Werk, dass es gewisse Strukturen, Ansätze zu Ordnungen und Regelmäßigkeiten im entstandenen Muster zu geben scheint, obwohl doch nur der Zufall über die Abfolge der Elemente entschieden hat. Also bestätigt sich die Behauptung „Ordnung: Nichts als Zufall“?
Oder ist es nicht doch so, dass der denkende Mensch diese Ordnung im Zufälligen sucht und findet? Es ist sicher evolutionär zu begründen, dass die Suche und das Sehen von Ordnung im Chaos der Umwelt beim Überleben große Vorteile waren und sind? Es grenzt schon an ein Wunder, dass die Menschheit ein so großes stimmiges Gebäude wie die Mathematik schuf und unterhält, das in seiner Abstraktheit nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat, das ihm aber unglaublich dabei hilft, die Welt zu verstehen und in ihr zu leben.
Aber warum ist das jeweilige „Kunstwerk“ so einmalig?
Es gibt mit der Anordnung der sechs Motivkärtchen circa zehn Quadrilliarden Möglichkeiten. Das heißt, ein Bild ist entstanden von ca. 1031 = 10.000.000.000.000.000.000.000.000.000.000 verschiedenen Bildern, die hätten entstehen können!
Das übersteigt unsere Vorstellungen und unseren Erfahrungshorizont bei weitem. Es ist auch sehr schwierig, irgendwelche Brücken zu unseren Vorstellungen und Erfahrungen zu bauen. Bei sehr großen Zahlen und sehr kleinen Wahrscheinlichkeiten versagt unsere Intuition. Nur die Mathematik liefert hier noch präzise Daten.
Der Titel dieses Artikels entspricht dem Titel der Ausstellung von Ingrid Hornef im Mathematikum in Gießen. Unser Exponat ist älter, es entstand nach einer Ausstellung von Ingrid Hornef in Wiesbaden.
Aus dem Veranstaltungsflyer des Mathematikums April – Juli 2018:
„In Ingrid Hornefs Kunstwerken scheint auf den ersten Blick ein Code zu stecken, den es zu knacken gilt. Betrachter durchforsten ihre schwarzweißen Arbeiten nach Regelmäßigkeiten und Strukturen, doch meist ohne Erfolg. Erst der Schlüssel zu ihrer Kunst – der Zufall – lässt erahnen, was dahinter steckt: Die Künstlerin visualisiert in ihren geometrischen Bildern das Ergebnis eines oft hundertfachen Würfelwurfs.
Ingrid Hornef macht auf diese Weise kunstvoll die Gesetze des Zufalls sichtbar.“
Es gibt in der Mathothek noch zwei weitere ähnliche Objekte. Das eine ist das musikalische Würfelspiel von Wolfgang Amadeus Mozart (1756 – 1791), Aus gegebenen Elementen (Takten) wird ein musikalisches Stück komponiert, und zwar mit genau 16 Takten. Das Mathematische daran ist, dass jeder dieser 16 Takte mit zwei Würfeln ausgewählt werden. Auf diese Weise entsteht ein musikalisches Stück, das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einmalig ist. Warum? Es sind auf diese Weise insgesamt 760 Billionen Musikstücke möglich. Hätte Mozart bis heute in jeder Sekunde eines dieser Stücke gespielt (ca. 250 Jahre lang), so wären das doch nur ein Tausendstel von einem Tausendstel (ein Millionstel!) aller möglichen Stücke. Dieses Gedankenexperiment zeigt, dass es sich somit bei jeder Komposition um eine Uraufführung handelt. In der Mathothek ist das Programm installiert. Mit zwei Würfeln und einem Würfelbecher kann der „Schöpfungsprozess“ gestartet werden.
Weitere Informationen zu diesem interessanten Experiment, das Von Mozart wohl als Gesellschaftsspiel gedacht war, finden sich in dem Buch Wie man in eine Seifenblase schlüpft von Albrecht Beutelspacher, das in der Mathothek zur Verfügung steht.
Die Parallelen zwischen diesen beiden Experimenten sind klar. Wesentlich ist es natürlich, dass in beiden Fällen das Rohmaterial nicht völlig zufällig ist, sondern bewusst ausgewählt wird.
Mit diesem Objekt lassen sich Landschaften oder Landschaftspanoramen mithilfe von aneinanderzulegenden kleinen Bildkarten gestalten. Da jede der 24 kleinen Bildkarten an jede andere Karte gelegt werden kann und die Übergänge an ihren Rändern immer ohne Brüche sind, gibt es 1.686.553.615.927.922.354.187.744 mögliche Permutationen, also eine „irre“ Anzahl von Möglichkeiten, ein gleichmäßiges Landschaftsbild entstehen zu lassen.
Jeder, der die 24 Kärtchen geduldig nebeneinanderlegt, erhält als Ergebnis ein Bild, das es „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ vor ihm noch nie gab und auch nach ihm nicht mehr geben wird. „Wenn alle 5.000.000.000 Menschen der Erde jede Sekunde eine Permutation legen würden, so brauchten sie dazu 10.696.000 Jahre.“ Obwohl es sich hier immer noch um endliche Zahlen handelt, übersteigt das doch bei weitem unsere auf Erfahrungen beruhenden Vorstellungen. Die Äußerung eines Schülers zeigt das unschlagbar mit seiner Reaktion auf diese Argumente, die er durchaus akzeptierte, und dann meinte, dass es aber doch sein könnte, dass demnächst ein anderer kommen könnte und zufällig dasselbe Bild legen würde. Die Vorstellungen von der Möglichkeit und von deren Wahrscheinlichkeit sind in vielen Bereichen doch sehr unsicher. Viele Ereignisse sind unbestritten möglich, aber ihr Eintreten ist nahezu unwahrscheinlich. Unsere Erfahrungen reichen hier nicht aus, was sich auch immer wieder im Alltagsverhalten der Menschen zeigt.
Nach einer weiteren Idee Ingrid Hornefs entstand ein weiteres interaktives Objekt zum Thema Konkrete Kunst in der Mathothek. Dabei handelt es sich um zehn Elemente, die aus sechs gleichen Holzwürfeln in Form einer einfachen Brücke in immer derselben Weise zusammengeklebt worden sind. Aus diesen Holzbausteinen lassen sich Variationen von Skulpturen zusammensetzen.
In diesem Zusammenhang von Zufall und Ordnung sind die Primzahl-Spiralen von Ulam recht interessant, weil hier bei einer zunächst eher zufällig erscheinenden Verteilung der Primzahlen Muster auftauchen, die nicht zu übersehen, aber bis heute auch nicht vollständig erklärbar sind.