Zu den faszinierendsten Exponaten in der Mathothek gehört das Herstellen eckiger Seifenblasen. Ein besonders bezauberndes Experiment ist das Eintauchen eines Kantenmodells von einem Würfel. Das Ergebnis überrascht, weil die sparsamste Flächenbespannung des Kantenmodells kein Würfel ist, wie man erwarten würde, sondern ein wunderschönes Gebilde. Besonders begeistert sind die Besucher der Mathothek, wenn sich ein sogenannter Tesserakt bildet, mit einem kleineren Würfel im Inneren:
Es handelt sich hier aber nicht nur um eine ästhetische Erscheinung, sondern auch um eine Projektion eines vierdimensionalen Würfels in unseren gewohnten dreidimensionalen Raum. Der folgende anfassbare Tesserakt ist aus Aluminiumröhrchen gebaut worden.
Wesentlich stabiler als aus schnell wieder zerfallenden Seifenhäuten ist der aus Beton gebaute Grande Arche in Paris. Der Grande Arche de Fraternité ist ein tesseraktförmiges Gebäude mit Büros und Verwaltungseinrichtungen in dem Hochhausviertel La Défense westlich von Paris, in der Stadt Puteaux. Das Gebäude entstand auf Initiative des ehemaligen Präsidenten Mitterrand und wurde am 14. Juli 1989 zum 200. Jahrestag der Französischen Revolution eingeweiht.
Der Grande Arche bildet mit dem berühmteren Arche de Triomph und dem Arche de Triomph de Carrousel die Axe historique. Mitterrand hat in seiner Regierungszeit viele bedeutende Bauten in Paris initiiert und starken Einfluss auf ihre Architektur genommen. So bei der Pyramide im Louvre. Hier wie bei anderen dieser Gebäude gibt es starke Bezüge zum alten Ägypten. Mitterrand hatte einen tiefen Sinn für Symbolik und mystische Beziehungen. Er war bereits unheilbar krank und strebte mit seinen Bauten wohl auch daher Bezüge zur Transzendenz an. Sicher war er sich bei dem Bau des „Großen Bogens“ der symbolischen Überschreitung des dreidimensionalen Raumes im Klaren. Das liegt sehr nahe, wenn man weiß, dass Mitterrand auch Mathematiker war und von den mathematischen Beziehungen höherdimensionaler Würfel sicher gewusst hat.
Eine grandiose Entdeckung in der Mathematik war die analytische Geometrie. War für sehr lange Zeit die Geometrie der Griechen die mathematische Disziplin überhaupt, so hat der Philosoph und Mathematiker René Descartes (1596-1650) die Geometrie mit der Arithmetik verbunden. Das war eine gewaltige Chance und gegenseitige Befruchtung für beide. Jeder Schüler erfährt heute in der Schule, was eine Zahlengerade ist oder was ein Koordinatensystem mit der Ebene zu tun hat. Rechnen half geometrische Sachverhalte besser zu bearbeiten und die Geometrie machte viele rechnerische Operationen leichter durchschaubar. Betrachten wir die Grundlagen: Die Punkte einer Geraden lassen sich umkehrbar eindeutig allen reellen Zahlen x zu ordnen. Die Punkte einer Ebene lassen sich umkehrbar eindeutig den Paaren (x1;x2) aller reellen Zahlen zuordnen. Alle Punkte eines dreidimensionalen Raumes lassen sich allen Tripeln (x1;x2;x3) aus allen reellen Zahlen umkehrbar eindeutig zuordnen. Alle Punkte eines vierdimensionalen Raumes sind die Quadrupel (x1;x2;x3;x4) aus allen reellen Zahlen, usw. Dieses logisch konsequente Vorgehen macht uns eigentlich keine Schwierigkeiten, auch nicht der Übergang zum fünfdimensionalen, sechsdimensionalen usw. Raum. Aber unserer Anschauung will das nicht gelingen, weil hier für uns keine Erfahrungen zur Verfügung stehen.
Aber es gibt einen Königsweg, der uns ein wenig hilft, den Nebel zu lichten, und das ist unsere Fähigkeit, Analogien zu sehen und zu nutzen. Analogie ist kein Beweismittel in der Mathematik. Sie ist zu vage und zu subjektiv, kann aber oft den Weg zu mathematischen Erkenntnissen und Beweisen bereiten. Diese Fähigkeit, vergleichbare Verhältnisse und „Parallelen“ zu erkennen, ermöglicht es uns mithilfe dieser Exponate „einen Blick oder Einblick“ in die vierte Dimension zu erlangen.
Auf den ersten Blick sieht man auf diesem Bild einen Würfel und nach genauerem Hinsehen eigentlich nur zwei parallel verschobene blaue Quadrate. Die roten Verbindungen der Eckpunkte der Quadrate geben die Verschiebung des zweiten Quadrats an, erscheinen uns aber als die weiteren vier Kanten eines Würfels. Unsere Fähigkeit, ebene Gebilde räumlich zu deuten, aus einer Projektion in der Ebene auf das projizierte räumliche Objekt zu schließen, soll uns bei unserem Abenteuer in die vierte Dimension helfen. Alle dreidimensionalen Körper, die hier abgebildet sind, sind als Fotos zweidimensionale Projektionen und nur in der Mathothek als räumliche Objekte anfassbar. So auch diese Fotos eines dreidimensionalen Würfels. Die beiden Bilder sind „nur“ die Ergebnisse von Zentralprojektionen aus verschiedenen Perspektiven auf das dreidimensionale Objekt in der Mathothek. Durch unsere Fähigkeit, stereoskopisch (räumlich) zu sehen, gelingt es uns besonders leicht mit der stereoskopischen oder Zentralprojektion in der zweidimensionalen Abbildung das abgebildete dreidimensionale Objekt zu sehen.
Grundlage für unseren Erfolg ist daher die Projektion, und zwar die Parallelprojektion und die Zentralprojektion in verschiedenen Richtungen. Betrachten wir zunächst das Verhältnis eines „Würfels“ in den anschaulichen ersten drei Dimensionen: In 1D entspricht dem Würfel eine Strecke, in 2D einem Quadrat und in 3D dem üblichen Würfel.
Aus dem Würfel wird durch eine senkrechte Parallelprojektion in die Ebene ein Quadrat. Durch eine entsprechende Projektion eines Quadrates auf eine Gerade wird eine Strecke, eine Seite des projizierten Quadrats. Jetzt die Frage, was ist die Projektion eines 4D-Würfels in den dreidimensionalen Raum? Natürlich ein „normaler“ dreidimensionaler Würfel!
Wir können nun auch umgekehrt vorgehen: Durch die entsprechende Verschiebung einer Strecke in die Ebene erhält man ein Quadrat. Verschieben wir das ebene Quadrat in Richtung der dritten Dimension, so erhalten wir den gewöhnlichen 3D-Würfel. Und ganz analog erhalten wir durch Verschiebung des 3D-Würfels in Richtung der vierten Dimension den Hyperwürfel im vierdimensionalen Raum. Logisch!
Mit blauen Kanten sehen wir die beiden Würfel, die durch die (gelb) Verschiebung in Richtung vierter Dimension den 4D- oder Hyperwürfel ergeben. Da wir die vierte Dimension nicht sehen können, zeigen uns die Fotos vier ebene Projektionen des 4D-Würfels in unsere dreidimensionale Welt. Natürlich ist das fotografierte Objekt bereits eine Projektion des eigentlich vierdimensionalen Hyperwürfels. Die gelben Kanten entsprechen der Verschiebung in der vierten Dimension. Zum besseren Verständnis gehen wir noch einmal zurück in die vertraute dritte Dimension. Wie würde sich ein Bewohner einer zweidimensionalen Flachwelt, der keine Anschauung vom dreidimensionalen Raum hat, sich einen 3D-Würfel denken? Jedenfalls könnte er sich in seiner Welt eine zweidimensionale Projektion eines solchen 3D-Würfels anschauen. Diese sähe dann bekanntlich so aus:
Wie wir im Hinblick auf den Hyperwürfel unsere Schwierigkeiten haben, so könnte er zwar zwei Quadrate sehen, die parallel verschoben sind. Nicht sehen könnte er die wahre Verschiebung „nach oben“. Genauso wie wir bei der Projektion des Hyperwürfels die „wahre“ Verschiebung des normalen Würfels in die vierte Dimension nicht sehen können.
Noch interessanter wird es, wenn wir keine Parallelprojektion nehmen, sondern eine Zentralprojektion. Die senkrechte Parallelprojektion eines normalen 3D-Würfels in die Ebene lässt alle 12 Kanten des Würfels in der Ebene erkennen. Aber diese zwölf Kanten bilden nicht die sechs Quadrate eines Würfels, sondern wir erkennen ein großes und ein kleineres Quadrat sowie vier symmetrische Trapeze. Diese Elemente sehen wir sowohl beim Foto eines 3D-Würfels von oben (linkes Bild) als auch auf dem Foto des ebenen Objektes (rechtes Bild).
Da der Mensch räumlich sehen gelernt hat, fällt uns dies Erkennen der zentralen Projektion des 3D-Würfels besonders leicht. Man muss nur den „richtigen Blickpunkt“ finden. Was würden wir nun sehen, wenn wir einen 4D-Würfel projizieren? Nun wir sähen einen Tesserakt. Den beiden Quadraten von eben entsprechen zwei 3D-Würfel und den sechs Trapezen entsprechen bei der Projektion von der vierten in die dritte Dimension sechs achsensymmetrische Pyramidenstümpfe.
Hier gelingt es wohl einigen Menschen nicht so leicht, die Parallelität zum Würfel (oben) zu erkennen, was aber in der Mathothek mit den realen Objekten leichter fallen dürfte. Das linke Foto ist auch wieder die Projektion einer Projektion. (Außerdem kann der Fotoapparat keine Parallelprojektion machen.) Aber vielleicht kann man auf dem rechten Foto die oben aufgezählten Teilkörper besser erkennen.
Bleibt noch ein analoger Weg für uns Erdenmenschen: Betrachten wir nun die Beziehungen von dem jeweiligen Körper und zu seinem Netz, seiner Begrenzung oder seiner Abwicklung in den verschiedenen Dimensionen:
2D: Das Quadrat (2D) wird von vier gleichlangen Strecken (1D) begrenzt
3D: Der Würfel (3D) wird von sechs gleichgroßen Quadraten (2D) begrenzt
4D: Der Hyperwürfel (4D) wird von acht Würfeln (4D) begrenzt
Während wir in den beiden ersten Fällen gar keine Schwierigkeiten haben, uns vorzustellen, wie man aus den Netzen den entsprechenden Körper herstellen kann, dürfte das im dritten Fall so seine Probleme haben.
Keine Schwierigkeiten hatte Salvador Dalí bei seinem Kreuzigungsbild die Abwicklung eines Hyperwürfels zu benutzen.
Der Gedanke, für das Mysterium der Kreuzigung Christi und seine anschließende Auferstehung diesen Bezug zu einer höheren Dimension zu benutzen, ist natürlich genial. Auf diese Weise zeigt Dalí uns, dass es hier um Höheres gehen muss als das, was uns in unseren drei Dimensionen verstehbar und einsichtig ist. Daher denke ich, dass es sich bei diesem Kunstwerk um keine Blasphemie handelt, sondern um eine besonders originelle geistige Herausforderung an den Betrachter.
Die folgenden Objekte beziehen sich auf das „Tetraeder“ in der ersten bis zur vierten Dimension.
Weitere zwei Objekte stammen aus dem 3D-Drucker. Es handelt sich um Projektionen von einem Hyperwürfel und von einer Hyperkugel, also einer „vierdimensionalen Erde“.
In dem kleinen Metallkästchen befinden sich drei Sätze von blauen, orangen und roten Rhomben oder Rauten. Sie sind magnetisch und haften deshalb gut auf dem schwarz beklebten Metallquadrat. Die möglichen symmetrischen Muster sind ausgesprochen schön. Aber das ist nicht alles.
Sie sind Parallelprojektionen eines dreidimensionalen, eines fünfdimensionalen und eines siebendimensionalen Würfels. Auch hier sollte man sich zunächst mit dem dreidimensionalen Fall vertraut machen: Ein normaler 3D-Würfel wird hier in Richtung einer Diagonalen durch eine Parallelprojektion in die Ebene abgebildet.
Was uns bei dem roten Sechseck leicht fällt, nämlich in dem Sechseck den projizierten Würfel zu sehen, gelingt uns bei den beiden anderen Mustern wohl kaum. Hier geht es uns wie den Flachländern, die sich aus dem zweidimensionalen roten Sechseck keine anschauliche Vorstellung von dem roten 3D-Würfel machen können.
Stellt sich zum Schluss noch die Frage nach der Dimension der Mathothek. Sie soll hier unbeantwortet bleiben und von faszinierten Besuchern jeglichen Alters und Geschlechts beantwortet werden.