Was ein Lindenblatt, ein Heilbutt und eine Haustür in der Nähe der Mathothek gemeinsam haben – Eine Ehrenrettung der Asymmetrie

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Diese Skulptur aus Edelstahl vor dem Gebäude der Wiesbadener Horst-Schmidt-Klinik heißt Ordnung und Störung, ist aus Edelstahl und wurde von Alf Lechner 1973 geschaffen. Dabei tritt uns in den vier klaren Würfeln und deren paarweisen Zusammensetzung mit der dadurch sich offenbarenden Symmetrie als Ordnung entgegen. Dagegen wirkt die asymmetrische Zusammenfügung der beiden Paare durch das Chaotische verstörend und bedrohlich auf uns. So geht es vielen Menschen häufig: Symmetrische Strukturen wirken mit ihrer Rationalität und dem Anschein von Beherrschbarkeit beruhigend auf sie. Dagegen wird stark auffallende Asymmetrie mit ihrem chaotischen Eindruck als beunruhigend, gar bedrohlich vom Betrachter empfunden.

In der Mathothek lässt sich diese Reaktion immer wieder beobachten, wenn Besucher – insbesondere jüngere – das Bild des Steinbutts das erste Mal sehen und entsetzt erkennen, dass dieser Fisch – entgegen praktisch alle ihrer bisher gemachten Erfahrungen – seine beiden Augen auf ein und derselben Körperseite befinden. 

Erklärt man dann diese ungewöhnliche Asymmetrie als sinnvolle Anpassung dieser Fische an ihre besondere Lebensweise, dann löst Staunen das anfängliche befremdende Erschrecken. Da diese Fische sich im Wasser nur knapp über dem steinigen und sandigen Boden bewegen, um ihre Nahrung aufzunehmen, „wanderte“ das untere Auge nach oben. Es vermied so die großen Verletzungsgefahren und konnte in der neuen Position das räumliche Sehen nach oben und damit die Sichtung von Feinden wesentlich verbessern. Nicht nur Symmetrie wird von der Evolution gefördert, sondern auch Asymmetrie kann Überlebenschancen verbessern.

Auch die getrockneten Lindenbaumblätter fallen durch ihre Asymmetrie auf und es stellen sich Fragen, weil man recht unreflektiert bisher angenommen hat, dass Blätter regelmäßig symmetrisch sind. Ein evolutionärer Vorteil ist hier nicht offensichtlich, aber wohl auch kein erklärender Nachteil.

Auf dem Weg vom Bahnhof Wiesbaden zur Mathothek kann man ebenfalls eine sich einprägende Asymmetrie erleben: Es handelt sich um eine an sich recht schlichte Haustür aus glattem Holz in Form eines Rechtecks, das nach oben durch einen Kreisabschnitt ergänzt worden ist. Diese klaren mathematischen Formen sind den meisten Passanden wohlvertraut. Aber die Anordnung von vier gewöhnlichen quadratischen Fensteröffnungen in dieser Tür sorgen dafür, dass der Betrachter völlig überrascht und diese Tür nicht so ohne Weiteres vergessen wird: Der Kontrast von der klaren Symmetrie der Tür selbst und der völlig ungewohnten Asymmetrie der Fensterplatzierung ist einfach unvergesslich beeindruckend:

Anlässlich eines Schulfestes hat die Mathothek eine Umfrage zu dieser Haustürgestaltung gemacht und Besucher nach eigenen Vorschlägen für die Anordnung der Fenster befragt. Niemand hat die Idee der tatsächlichen  Gestaltung vorgeschlagen. Fast immer waren es sehr symmetrische Vorschläge, die bevorzugt wurden.

Wer hat es hier gewagt, gegen die Diktatur der Symmetrie – oder auch nur gegen die als selbstverständlich angesehene Ordnung von senkrecht und waagrecht – aufzumucken? Und warum oder wozu? Jedenfalls findet der stumme Protest ebenfalls in der Umgebung der Mathothek statt.

Dieses schöne Paar Keltischer Wackelhölzer in der Mathothek fasziniert viele Besucher, und zwar junge wie alte. Auch bei genauerer Betrachtung scheinen sie, mit Ausnahme der Farbe, völlig symmetrisch zu sein:

Legt man aber das schwarze Holz mit seiner gewölbten Seite auf eine glatte Fläche, dann lassen sich die folgenden Beobachtungen machen: Tippt man das Objekt an einem Ende kurz an, so beginnt es einen kurzen Moment zu wackeln und sich dann im Uhrzeigersinn um seine Mittelachse zu drehen. Versucht man anschließend, dieses Holz gegen den Uhrzeigersinn zu drehen, so beginnt es im nächsten Augenblick zu „protestieren“, d.h. relativ heftig zu wackeln und dreht sich anschließend wieder im Uhrzeigersinn. Bei dem weißen Wackelholz ist es das gleiche, aber seine Drehrichtung erfolgt gegen den Uhrzeigersinn und ein Versuch, es im Uhrzeigersinn zu drehen, führt zu seinem Wackel-Protest. Alle nicht zerstörerischen Versuche, die Ursache für die unterschiedlichen Verhaltensweisen, zu finden, laufen ins Leere. Die meisten Besucher vergleichen vor allem die genaue Form und prüfen, ob die Symmetrie beider Hölzer wirklich gleich ist. Finden auf diesem Weg aber keine Asymmetrie.

Ein kleiner  Junge fasste dabei seine Überlegung in die Worte: „Wenn die beiden Wackelhölzer wirklich symmetrisch sind, dann müssen sie sich auch gleich verhalten!“ Er vermutete richtigerweise, dass die Asymmetrie im Inneren versteckt sein müsse.

Er hatte natürlich recht, wie ein anderes und „einsichtigeres“ Wackelholz offenbarte:

Aber wo steckt bei dem folgenden „durchsichtigen“ Wackelstein die Asymmetrie? Auch ein guter Grund, um der Mathothek einen Besuch zu machen.

Oder man kommt durch die Herstellung solcher Wackellöffel auf die Lösung:

Symmetrie und Asymmetrie sind in der Kunst wichtige, aber keine alles beherrschende Gesichtspunkte. Sie sind keinesfalls das Kunstwerk bestimmende Gesetze oder über der Idee des Kunstwerks stehende Regeln, sondern im Wesentlichen nur ein unterstützender Teil des Werkes, Mittel zum Zweck. Symmetrien müssen der künstlerischen Arbeit zur Verfügung stehen, aber Abweichungen auch.

In der Architektur ist die Symmetrie nicht nur aus ästhetischen Gründen häufig, sondern wird nicht zuletzt aufgrund statischer Notwendigkeiten bevorzugt und auch erwartet. Aber bei den grandiosen Gotteshäusern war die Statik oft die Herausforderung, dem höchsten und vollkommensten Wesen zur Ehre die Kirchen und Dome, aber auch Moscheen und Tempel  besonders symmetrisch zu gestalten.

Bei Umbauten, Vergrößerungen und Modernisierungen mussten dann oft asymmetrische Zugeständnisse gemacht werden.

Erst in der modernen Architektur, mit ihren besseren mathematischen Kenntnissen und baulichen Möglichkeiten, löste man sich zunehmend auch von den einfacheren Symmetrievorstellungen und suchte gerade auch durch Asymmetrien zu punkten.

In der Malerei und Bildhauerei sind solche Fragen nach Proportionen, Symmetrien und Harmonien besonders reichhaltig. Manchmal sind hier Bilder, die auf den ersten Blick asymmetrisch erscheinende Gestaltungen aufzuweisen scheinen, von weniger offensichtlicheren Symmetrien bestimmt.

Bei dieser Reproduktion von Pablo Picassos Bild scheint die Einheit von Mutter und Kind das Bild von der Mitte her „symmetrisch“ auszufüllen. Es handelt sich hier aber nicht annähernd um eine achsensymmetrische Gestaltung, es scheint eher eine Asymmetrie vorzuliegen. Legt man aber die Proportionen des Goldenen Schnitts zugrunde, dann zeigt sich, dass die Verbindungslinie der Augen (und Nase) der Mutter mit den Augen des Säuglings das Bild im Verhältnis des Goldenen Schnitts teilt. Treffender kann man wohl die innigste Verbindung von Mutter kaum darstellen. So hat es wohl auch der Maler Marc Chagall gesehen und gemalt: 

An dieser Stelle sollen die beiden Beispiele für die unendliche Fülle stehen, denn es gibt viele Exponate in der Mathothek und auch Artikel im Katalog zum Thema Mathematik und Kunst.

In einem Bereich zwischen Alltag und Kunst befinden sich die Möglichkeiten, Parkette oder Kachelungen zu gestalten. Zu diesem Problem gibt es eine außerordentliche Vielfalt an interaktiven Objekten in der Mathothek.

Beispiele aus der islamischen Kunst:

Es gibt hier sehr regelmäßige, geometrische oder symmetrische Kachelmuster:

Aber es gibt auch Parkettierungen, die asymmetrisch wirken. Sie besitzen zwar zwei regelmäßige Kacheln, aber es gibt keine regelmäßige Wiederkehr der Muster, bzw. keine regelmäßige Periodizität. Sie wurden von dem Mathematiker Roger Penrose entdeckt:

Inzwischen wurden auch in der Natur mit den Penrose-Parketten verwandte Strukturen entdeckt, Quasikristalle. Mathematisch entdeckte „asymmetrische“ Strukturen helfen dem Menschen auch neue Strukturen in der Natur zu entdecken.

Wahrscheinlich gibt es das Weltall nur, mit allem darin, auch mit dem Leben und dem menschlichen Geist, weil es beides – Symmetrie und Asymmetrie – gibt. Vielleicht gibt es sogar nur die Asymmetrie, mit mehr oder weniger angenäherten symmetrischen Strukturen, aus denen nur durch den Geist mathematische Symmetrien und Gesetze entstehen.

Auf dem Weg zu unserem naturwissenschaftlich begründeten Weltbild gab es viele mythologische Versuche, in bildhaften und die Lebenserfahrungen der frühen Menschen einbeziehenden Erklärungsversuche. In vielen solcher Schöpfungsmythen ist von der Ordnung die Rede, die das anfänglich bestehende Chaos beendet. Der Mensch fühlt sich ohne Kenntnis der Gesetze und Zusammenhänge seiner natürlichen Umwelt dem Schicksal ausgeliefert und von ihm bedroht. Erst durch die ordnende, rationale Durchdringung chaotischer Unberechenbarkeit wird er „gottähnlich“, macht sich die Welt „untertan“.

Aber auch die Naturwissenschaften unserer Tage scheinen  davon überzeugt zu sein, dass es gewisse Abweichungen von der absoluten Symmetrie waren, die die „Schöpfung“ überhaupt erst ermöglichten.

Viel hat der Mensch auf diesem Weg erreicht, um irrationale Ängste abzubauen, die Naturkräfte zu beherrschen und zu nutzen. Sein Ziel ist es, für möglichst viel Berechenbarkeit zu sorgen, um die Umwelt nach seinen Wünschen zu beherrschen. Nicht nur die drohende Klimaerwärmung zeigt, dass er weit davon entfernt ist. Das Chaos steckt in der Asymmetrie zwischen Mensch und Natur, in der Selbstüberschätzung des Menschen, weil er nicht akzeptieren will, dass auch er nur ein Teil von ihr ist. Aber auch die Naturwissenschaften unserer Tage scheinen  davon überzeugt zu sein, dass es gewisse Abweichungen von der absoluten Symmetrie waren, die die „Schöpfung“ überhaupt erst ermöglichten.

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