Goldener Schnitt – Maß, Proportion und Harmonie in der Architektur

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Seit der Mensch dazu übergegangen ist, sich seine “Höhlen” selbst zu bauen, hat er zunehmend auch Wert auf das äußere Erscheinungsbild seiner “Hütte” gelegt. Dieses Bestreben, mit Bauten zu beeindrucken, anderen Reichtum, Macht und Größe zur Schau zu stellen, galt und gilt aber nicht nur für einzelne, sondern ganz besonders auch für Gemeinschaften, wie Städte, Fürstentümer oder ganze Reiche, aber auch für religiöse Gruppen. Dabei ging es nicht nur um immer größer und höher. Es ging keinesfalls nur um die Zweckmäßigkeit, sondern  auch um die Schönheit und die Harmonie der Bauten. Insbesondere bei Tempeln und Kirchen sollten die Gebäude auch den eigenen Gott oder die eigene Göttin in ihrer Größe und Macht demonstrieren und diese damit den Erbauern gegenüber verpflichten, sie wohlwollend und dankbar stimmen.

In der Mathothek findet man ein sehr kleines und vereinfachtes Modell (ca. 1:500) von einem der schönsten Tempel aus dorischer Zeit im antiken Griechenland, dem Parthenon in Athen. Er wurde zu Ehren der Göttin Pallas Athene 447 – 432 v. Ch. auf Initiative des bedeutenden Politikers und Kämpfers für die Demokratie Perikles durch den genialen Bildhauer und Architekten Phidias in dieser kurzen Zeit errichtet. Auch wenn unser Modell nur aus Papier und sehr klein ist, so fasziniert es uns doch mit seinen harmonischen Proportionen, die uns Betrachtern wohltun. Das Modell stellt den rekonstruierten ursprünglichen und nicht den stark zerstörten Tempel von heute auf der Akropolis in Athen dar. An diesem Bau können wir mehrfach Proportionen entdecken, die dem Goldenen Schnitt entsprechen, d.h. dass zwei Längen a und b so beschaffen sind, dass die kürzere der beiden Strecken sich zur längeren genauso verhält wie diese zur Summe der beiden Längen: a:b=b:(a+b). So stellt man leicht fest, dass die Höhe und die Breite der Stirnseite in diesem Längenverhältnis stehen, somit diese Säulenfassade in ein sogenanntes goldenes Rechteck passt. Auch die Höhe der Säulen und die Giebelhöhe stehen im Verhältnis des Goldenen Schnitts.

Ist das nun zufällig oder intuitiv geschehen oder möglicherweise die gekonnte Anwendung einer Proportion, die als besonders schön empfunden wurde? Da es keine überlieferten Hinweise auf die bewusste Anwendung des Goldenen Schnitts gibt, kann diese Frage nicht sicher beantwortet werden. Andererseits hat Phidias bei seinen zeitlos schönen Skulpturen offensichtlich immer wieder den Goldenen Schnitt bewusst oder intuitiv verwendet, sodass der Anfangsbuchstabe seines Namens Φ=(Phi) für das Verhältnis (√5-1):2≈0,618 – das Teilungsverhältnis des Goldenen Schnitts – benutzt wird. In seinem berühmten Mathematikbuch Elemente hat Euklid (3. Jh. v. Ch.) auch den Goldenen Schnitt und seine Konstruktion behandelt.
Natürlich war und ist der Goldene Schnitt nicht die einzige Proportion, die in der Architektur benutzt wurde. So ergeben die 17 Säulen an der Längsseite des Parthenons zu den 8 Säulen der Frontseite ein Verhältnis v von 17:8≈2.1, eine Zahl, die noch öfter auftritt. Das Verhältnis 2:1 wird bis heute noch gerne verwendet, zum Beispiel für Länge und Breite, und als schön empfunden.

Aber keine noch so bekannten und beliebten Proportionen machen ein architektonisches Kunstwerk schon harmonisch, dazu bedarf es vor allem der Genialität des Architekten und seinem Umgang mit festen Proportionen.

Das einzige, der bis heute erhaltenen der sieben antiken Weltwunder sind die Pyramiden Ägyptens. Die größte ist die mehr als 4000 Jahre alte Pyramide des Pharaos Cheops oder die große Pyramide von Gizeh.

Das folgende geometrisch vereinfachte kleine Modell der Cheopspyramide (1:2000) soll einmal eine räumlich proportionale Anschauung dieses antiken Wunders liefern, aber auch die weiter unten angesprochenen Beziehungen zu verstehen helfen.

Von der großen Pyramide von Gizeh behauptet der griechische Geograf und Historiker Herodot, von einem Priester erfahren zu haben, dass die Fläche des Quadrats über der Höhe der Pyramide und die Fläche eines jeden Seitendreiecks dieser Pyramide gleich groß seien.

Aus dieser überlieferten Flächeninhaltsgleichheit haben spätere Forscher darauf geschlossen, dass das Verhältnis der Höhe einer Seitenfläche der Pyramide zur halben Grundseite von ihr dem Goldenen Schnitt entspricht. Mit a als Höhe des Seitendreiecks und b=g/2 als der halben Länge der Grundseite ergibt sich als Fläche des Seitendreiecks a⋅b und mit h als Pyramidenhöhe die Gleichung h2=a⋅b (Flächeninhaltsgleichheit von Höhenquadrat und Seitendreieck). Aufgrund des Satzes von Pythagoras erhalten wir h2=a2-b2 und somit die Gleichung a⋅b=a2-b2. Teilen wir diese durch b2, so ergibt sich a/b=a2/b2-1 oder 0=a2/a2-a/b-1. Dann ist a/b die Lösung der Gleichung x2-x-1=0 und somit a/b=Φ. Die Gleichung x2-x-1=0 ergibt sich aus der Definition des Goldenen Schnitts, nämlich 1:(1-x)=(1-x):x. Gegen diese Theorie wird vor allem eingewandt, dass die Überlieferung von Herodot nicht sehr zuverlässig und daher interpretierbar sei.

Eine andere Theorie stellt einen Bezug zu der Kreiszahl π her: Es ist h/2g=2/π. Rein rechnerisch ist der Unterschied zwischen den beiden Theorien sehr klein, liefert also kein überzeugendes Argument für die eine oder andere Theorie. Da auch hier keine historischen Quellen aus der Bauzeit vorliegen, bleibt es bei Spekulationen. Auch wenn die Aussage der Flächengleichheit stimmt, muss daraus nicht folgen, dass die Baumeister den Goldenen Schnitt kannten und bewusst anwendeten. Die antiken Weltwunder der Pyramiden in Altägypten haben die Phantasie der Menschen immer wieder angeregt und ihnen zu Spekulationen Stoff geliefert.

Der Ägyptologe Flinder Petrie, vermaß die Cheopspyramide in der Zeit von 1880 bis 1882 sehr gründlich. Seine Ergebnisse sind so genau, dass sie bis heute gültig sind. Er belegte, dass dem Bau der Pyramide die ägyptische Königselle zugrunde lag. Danach betrug die ursprüngliche Grundkante 440(=11⋅40) Königsellen, das sind 230,33 m, und die Höhe 280(=7⋅40) Königsellen, was 146,59 m entspricht. Damit beträgt das Verhältnis von Höhe zu Breite der Pyramide 7/11.

Unten sehen wir das Bild der Fassade des Domes von Limburg an der Lahn aus dem 13. Jahrhunderts:

Der Dom von Limburg steht faszinierend auf einem Felsen über der Lahn. Seine Altarweihe fand 1235 statt und seine innere und äußere Erscheinung strahlen große Harmonie aus, trotz seiner Baugeschichte aus einer romanischen Kirche zu einer frühgotischen Kathedrale. Im typischen rheinischen Mischstil sind viele Elemente noch von romanischer Erscheinung, aber die himmelstrebende Wirkung des Innenraumes ist schon ganz Gotik.

Vielleicht ist auch hier die Verwendung des Goldenen Schnitts bei der Fassadengestaltung nicht bewusst, sondern intuitiv erfolgt. Jedenfalls stehen die Höhen jeder der beiden Türme (ohne Dächer) zu der des kleineren Mittelbaus (ebenfalls ohne Giebel) mit dem Portal im Verhältnis des Goldenen Schnitts. Es sind aber noch weitere Teilungen an der Fassade zu finden, die der göttlichen Proportion entsprechen.

Viel Spaß beim Suchen mit unserem speziellen Zirkel:

Auch beim Kölner Dom lässt sich der Goldene Schnitt mehrfach aufzeigen, z.B. auch an der Fassade und im Grundriss.

Dass die Epoche der Renaissance als Wiedergeburt der Antike auch vielfach den Goldenen Schnitt verwendete, verwundert nicht. Als Beispiel sei hier die Fassade des Leipziger alten Rathauses 1556/57 gezeigt.

Neben der Zeichnung der Front dieses Rathauses zeigt das Bild auch noch eine geläufige Konstruktion des Goldenen Schnitts. Auffällig ist auf den ersten Blick, dass der recht hohe Turm nicht in der Mitte steht, sondern nach links verschoben ist. Orientiert man sich an den Giebeln, dann teilt der Turm die Fassade im Verhältnis 2:4, also teilt er die Fassade 1/3 zu 2/3. Die Mitte des etwas verrückten Haupttores entspricht nach der Konstruktion genau dem Teilungspunkt des Goldenen Schnitts. Es gibt auch hier keine quellenhistorische Überlieferung für eine bewusste Anwendung des Goldenen Schnitts. Allerdings ist es belegt, dass der Baumeister den Goldenen Schnitt als Konstruktionsprinzip an anderen seiner Werke bewusst eingesetzt hat.

Manchmal können auch einfache Nachbildungen, wie beispielsweise der “goldige” kleine Eiffelturm, der als Souvenir aus Paris in die Mathothek kam, auf eine mögliche Aufteilung nach dem goldenen Schnitt beim Original hinweisen:

Tatsächlich betragen die Höhen der zweiten Plattform 116m und die ursprüngliche Höhe des Eiffelturms 312m, d.h. die Höhe des Turms vor dem Aufbau des nach der Weltausstellung aufgebauten Senders (jeweils auf volle m gerundet). Dann liefert die Rechnung:

(312-116):312=0,628… , Goldener Schnitt: (1+√5):2=0,618… .

Damit liegt die Proportionierung des unteren zweistöckigen breiten Basisteils zum schlanken oberen Teil ungefähr beim Verhältnis des Goldenen Schnitts und wirkt die gesamte Konstruktion so harmonisch auf den Betrachter. Allerdings hat Eiffel nie den Goldenen Schnitt im Zusammenhang mit diesem heutigen Pariser Wahrzeichen erwähnt, sodass diese Teilung eher intuitiv erfolgt ist.

Da soll London nicht zurückstehen. Schon am Modell eines seiner Wahrzeichen, dem Big Ben, lässt sich hier die göttliche Proportion vermuten. Wer Blut geleckt hat und den das Jagdfieber nach dem edlen Schnitt gepackt hat, mache sich auf die Suche.

Mit dem Architekten Le Corbusier kommen wir zu einem Künstler des 20. Jahrhunderts, der sich sehr bewusst mit dem Konstruktionsprinzip des Goldenen Schnitts auseinandergesetzt hat. Für seine auf dem Goldenen Schnitt und der Folge der Fibonacci-Zahlen beruhenden mathematischen Ordnungsprinzipien in der Architektur erhielt er 1934 die Ehrendoktorwürde der Universität Zürich. Auch die Gestaltung des Schweizer Zehn-Franken-Scheins ehrt ihn und sein Proportionsschema.

Der Architekt Le Corbusier (1887-1965) schuf in den 1940er Jahren ein auf den Eigenschaften der Fibonacci-Zahlen fußendes und auf die Maße des Menschen bezogenes Proportionssystem, das er “Modulor” nannte. Die Folge der Fibonacci-Zahlen beginnt mit 1, 1. Dann folgt 2=1+1, 3=1+2, 5=3+2, … , die Summe der beiden vorausgehenden Zahlen ergibt das nächste Folgenglied. Diese Folge natürlicher Zahlen hat interessante Eigenschaften. So liefert der Quotient aus einer beliebigen Fibonacci-Zahl durch ihren Nachfolger eine Näherung an Φ, die Zahl des Goldenen Schnitts. Dabei wird der Abstand des Ergebnisses zu dem Grenzwert Φ mit größer werdenden Zahlen immer kleiner. So wird in der Architektur und allgemein in der Kunst oft das Verhältnis von Fibonacci-Zahlen als Proportion gewählt, z.B. 1:2, 2:3, usw. (Halbierung und Drittel-Regel). Diese interessante Zahlenfolge kommt auch in der Natur vor, was sicher – neben dem Bezug zum Goldenen Schnitt – zu ihrer großen Beliebtheit in der Kunst geführt hat.

Le Corbusier orientierte sich einerseits bei seinem Maßsystem an den Eigenschaften der Fibonaccifolge und damit am golden Schnitt. Er baute aber mit anderen Startzahlen zwei Zahlenreihen auf, bei denen auch jeweils zwei benachbarte Zahlen annähernd im Verhältnis des goldenen Schnitts standen. Dabei ging er von Maßen am “idealen” Menschen aus, z.B. ging er von einer idealen Körpergröße eines Mannes von 183 cm aus, mit ausgestrecktem Arm und ausgestreckten Fingern nahm er eine Länge von 226 cm an. Hier sind die beiden Reihen.

Rote Reihe: 4, 6, 10, 16, 27, 43, 70, 113, 183, …

Blaue Reihe: 8, 13, 20, 33, 53, 86, 140, 226, …

Die Zahlen wurden von Le Corbusier selbst gerundet. Er war davon überzeugt, dass diese Zahlen sehr eng mit den Proportionen des idealen Menschen zusammenhingen.

 

Auch wenn sich dieses System, das Le Corbusier den Modulor nannte, nicht allgemein akzeptiert und angewandt wurde, ist es doch ein höchst interessantes Werk. Noch wertvoller ist das dahinter stehende Bemühen, in der Baukunst die Proportionen menschlich zu gestalten, und nicht, wie es sich besonders in totalitären politischen Systemen zeigt, den einzelnen Menschen angesichts eines Gebäudes sich als ohnmächtig empfinden zu lassen.

Bei dieser kleinen Porzellanfigur teilt der Nabel die Länge diese Jünglings  im goldenen Schnitt. Jeder Besucher und jede Besucherin der Mathothek können mit einem großen Holzzirkel am eigenen Körper überprüfen, ob auch bei ihnen der Nabel “die goldene Mitte” bildet.

Die Zeichnung des vetruvischen Mannes von Leonardo da Vinci (1492) zeigt, dass Le Corbusier nicht der erste Architekt war, der die Proportionen des menschlichen Körpers zur Grundlage seiner architektonischen Proportionenlehre gemacht hat: Das war wohl der römische Architekt Vetruvius. Von ihm sind zehn Architekturbücher aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. erhalten. In ihnen beschreibt er seine Überzeugung, dass der Mensch als grundlegendes Maß in der Architektur zu gelten habe. Von dieser Auffassung war auch Leonardo da Vinci überzeugt und schuf seine weltberühmte Zeichnung, mit der er aber auch die Verschmelzung von Kunst und Mathematik in der Kultur der Renaissance ausdrücken wollte. In Leonardos Bild findet man mit geringer Abweichung (1,7 %) im Verhältnis zwischen der Quadratseite und dem Radius des Kreises. 

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