Warum – wenn schon Blumen in der Mathothek – keine natürlichen? Sie würden natürlich zu schnell verwelken oder einfach eine zu aufwändige Pflege erfordern. Warum dann nicht ganz auf die Blütenpracht verzichten? Die Faszination der Blumen begründet sich nicht nur durch ihren oft betörenden Duft und ihre prächtigen Farben, sondern auch durch die mathematischen Eigenschaften ihrer Erscheinung, beispielsweise die verschiedenen Symmetrien, der goldene Schnitt, die Fibonacci-Zahlen.
Die ältesten künstlichen Blumen tauchten in der Mathothek im Zusammenhang mit dem Thema des einschaligen Hyperboloids auf:







Meine Idee, dass jeder gut gebundene Blumenstrauß mathematisch gesehen ein einschaliges Hyperboloid darstellt, wurde mir dann von einer kompetenten Floristin bestätigt. Jeder Florist muss, um die Prüfung zu einem solchen zu bestehen, derartige mathematischen Blumengebilde binden können. Und die sollten in der Regel so standfest sein wie der „Anemonenstrauß“ in der Mathothek.
Inzwischen gibt es in der Mathothek noch einen zweiten „hyperboloiden“ Strauß, dieses Mal aus künstlichen gelben Tulpen. Das Körbchen, in dem die Kunsttulpen stehen, hat ebenfalls die Gestalt eines Hyperboloids. Mathematisch gesehen erhält man ein Hyperboloid durch die Drehung einer Hyperbel um ihre Symmetrieachse.

Bei dem neuesten, größten und weitaus schönsten Strauß in der Mathothek sind zwar die großen Blütenstile nicht als Hyperboloid gebunden, dafür werden diese aber durch eine passende hyperboloid-förmige Glasvase in Form gehalten. Die einzelnen Zweige dieses bunten Straußes „blühender Mathematik“ verdienen aber voll und ganz ihren Platz in der Mathothek.


Da sind zunächst die weißen Blüten der Lilie:

Schon die beiden symmetrischen dreiseitigen Knospen lassen den symmetrischen Aufbau der späteren Blüte ahnen. Die geöffnete Blüte zeigt uns auf den ersten Blick in der Anordnung ihrer sechs Blütenblätter sechs Ebenenspiegelungen. Aber auch die drei Drehungen um 120, 240 oder 360 Grad um die Mittelachse der Lilienblüte liefern jeweils die Deckungsgleichheit von Ausgangsbild und Drehergebnis. Übrigens sind natürliche Lilien in diesem Punkt meistens viel präziser als die künstlichen Lilienblüten. Betrachtet man die Lilienblüte einmal im Querschnitt, erscheint uns eine durchaus bekannte geometrische Figur. Sie besteht aus zwei gleichseitigen Dreiecken, die punktsymmetrisch zusammengesetzt sind und uns unter der Bezeichnung Davidstern bekannt ist und der den Bund zwischen dem jüdischen Volk und seinem Gott symbolisiert.
Diese besondere Anordnung von sechs Blütenblättern finden sich auch bei den Blüten der gelbenTulpen. Bisher habe ich diese „Davidstern-Symmetrie“ immer wieder bei den Blüten von Zwiebelgewächsen gefunden. Die Symbolik des Sternsymbols wird meistens dadurch noch stärker betont, dass man die beiden gleichseitigen Dreiecke ineinander verschränkt.
Bei der Blüte der blauen Glockenblume erkennt man, dass es hier fünf Spiegelebenen gibt, die eine gemeinsame Achse haben. Um diese Gerade gibt es dann fünf Drehungen (um 72, 144, 216, 288 und 360 Grad). Dieselbe fünfstrahlige Symmetrie erkennen wir auch in den Blüten der Kirsche am entsprechenden Ast im Strauß:


Diese fünffache Symmetrie aus fünf Spiegelungen und fünf Drehungen kommt mit kleinen Variationen der Blütenblätter auch bei allen anderen Glockenblumen vor. Auch wilde Rosen haben diesen Symmetrietyp, aber auch viele Obstbäume Das nächste Bild einer bearbeiteten Fotografie von einer natürlichen Glockenblume zeigt deutlich das Bild eines Pentagramms (= regelmäßiges Fünfeck mit fünf Diagonalen). Damit steckt aber im Prinzip auch der goldene Schnitt in allen Blüten mit regelmäßiger fünfstrahliger Symmetrie als Rahmen der Glockenblumenblüte. Diese Fünfersymmetrie mit fünf Ebenenspiegelungen und fünf Drehungen um die gemeinsame Achse der Spiegelungsebenen ist in der Blütenwelt sehr häufig.

Sehr häufig tritt ein weiterer Typ von der Fünfersymmetrie auf, bei der es nur fünf Drehungen und keine Spiegelungen gibt. Dazu gibt es etliche Fotos in der Mathothek, beispielsweise diese Immergrünblüte.

Die weißen Blühten der künstlichen Clematis scheinen eine solche Symmetrie mit der Zahl Zehn zu besitzen. Beim genaueren Hinsehen erkennt man, dass aber auch hier wohl ursprünglich nur eine Fünfer-Symmetrie vorlag – die Blüte weist daher auch nur fünf weibliche Blütenteile auf. Das natürliche Vorbild unserer Kunstblume ist wohl eine bewusste Züchtung.

Bei einem Rundgang durch die Mathothek lassen sich viele gerahmte Fotos interessanter Fünfer-Symmetrie-Blüten entdecken. Die großartige pentagonale Symmetrie der Hoya (Wachsblume) bedarf keines Kommentars:

Bei dem folgenden künstlichen Blütenstängel (Helikonie) mit seinen exotisch farbenprächtigen Blüten erkennt man eine weniger bekannte Symmetrie. Es handelt sich um die zwischen Spiegelung und Verschiebung abwechselnde Gleitspiegelung. Die unterste Blüte „ergibt“ nach ihrer Spiegelung am Stängel als Spiegelachse und einer Verschiebung in Achsenrichtung die zweite Blüte usw.

In der Natur findet man die Gleitspiegelung nicht nur bei farblich so auffälligen Blüten wie hier, sondern sehr häufig auch bei Grünanteilen von Pflanzen und bei Gräsern. So erkennt man in der linken unteren Ecke des Bildes (oben) an dem grünen Blattstängel ebenfalls eine Gleitspiegelung bei der Platzierung der abgerundeten dreieckigen Blättchen am Stängel. Es handelt sich hier um das Blattwerk einer Banksie. Weniger farbenprächtig und pompös kommt auch der folgende Grashalm mit seinen bescheidenen Blüten, aber seiner gut erkennbaren Gleitspiegelungssymmetrie daher. Wenn einem der Wind die Bestäubung erledigt, lohnt sich ein Aufwand, wie ihn die Helikonie betreibt natürlich nicht. Allerdings wiederholt sich bei unserem unscheinbaren Grashalm das Prinzip der Gleitspiegelung bei jeder der kleinen Ähren.

Das nächste Bild zeigt eine solche künstliche Banksie, eine bei uns wenig bekannte Pflanze. Bis auf eine der 80 Arten kommt sie nur in Australien vor. Die hier abgebildete künstliche Blüte zeigt, dass eine solche Sammelblüte, die Hunderte von Einzelblüten besitzen kann, dennoch wie eine deutlich erkennbare Gesamtform erscheint. In diesem Fall erscheint sie uns als ein Ellipsoid, d.h. in der Gestalt einer um ihre Längsachse rotierenden Ellipse:


Möglicherweise hilft somit neben der leuchtenden Farbe auch die Form der Gesamtblüte zu der gewünschten Bestäubung, indem Form und Farbe dieser Blüte ein besonders wirksames Gasthausschild für die Bestäuber abgeben. Im Gegensatz zu dieser Kunststoff-Blüte liebt das natürliche Vorbild große Hitze, z.B. einen Buschbrand, um seine Samen danach zu verteilen und die Art in dem freigewordenen Gelände zu verbreiten.


Die vielen in dunklem Violett erscheinenden, so unscheinbaren Einzelblüten eines bei uns bekannten Lauchgewächses (Allium) bilden zwar auch eine kompakte und weithin sichtbare Kugel, würden aber Buschbrände wohl kaum überleben.
Auch die vielen rosa Brutzwiebeln der nächsten Kunstblume (Allium) wirken nicht nur durch ihre weithin leuchtende Farbe, sondern auch durch ihre große Anzahl und ihre Anordnung als weithin sichtbare kompakte Kugel.
Die nächste besondere Sammelblüte ist die künstliche Doppeldolde. Sowohl die Blüte als Ganzes hat Doldenform, aber auch die „eigentlichen“ Blüten bilden typische Dolden mit ihren unverwechselbaren Halbkugelformen:

In der Natur gibt es eine Fülle von Pflanzen mit Variationen von Doldenblüten, so z.B. Kerbel, Kümmel, Möhre und Sellerie, und zwar in ihren wilden und auch in ihren kultivierten Formen. Aber auch der nicht ungefährliche Bärenklau und der hochgiftige Schierling sind Doldengewächse. Diese Blüten- und nachfolgenden Fruchtstände zeigen eine Form von Selbstähnlichkeit, die in der Natur immer wieder zu finden ist.
Zeit für den Auftritt der Königin der Blumen: Ihre Majestät die Rose!

Während ihre vielen wilden Untertanen sich gesetzlich mit fünf Blütenblättern – nicht mehr und auch nicht weniger – schmücken dürfen, ist sie einzig in eine Fülle von Blütenblätter gehüllt. Und diese barocke Pracht ist auch noch herrschaftlich übersichtlich spiralförmig angeordnet.
Ähnlich wie bei den Wildrosen an ihren Früchten, den Hagebutten, so erkennt man auch bei den folgenden Früchten, dass die vorhergegangenen Blüten eine fünffach symmetrisch angeordnete Blüte besaßen:


Ferner weisen die künstlichen gelben Blüten der Forsythie und die des violetten Flieders die Symmetrien eines Quadrats auf: vier Drehungen und vier Spiegelungen:


Die Blüten von Astern, Margeriten, Gänseblümchen, Löwenzahn u. a. haben fast immer auffällige „kreisförmige oder ringförmige Symmetrien“. Alle diese gehören zur Gattung der Asterartigen oder Korbblütler. Sie sind Sammelblüten und besitzen zweierlei Blüten, nämlich die häufig unfruchtbaren, aber stark farbig leuchtenden Zungenblüten, die als „Wirtshausschilder“ für die Bestäuber dienen, und die recht unscheinbaren, aber fruchtbaren Röhrenblüten. Zwei künstliche Vertreter mit leuchtend gelben bzw. weißen „Wirtshausschildern“ sind auch in dem großen, bunten Strauß vertreten: Sonnenhut und Margerite:


Eine besonders auffällige Art von Korbblütlern sind die verschiedenen Sorten von Sonnenblumen mit ihren weithin gelb leuchtenden Zungenblüten und ihren „spiralförmig“ angeordneten bräunlichen Röhrenblüten. Deren ganz besondere Anordnung in zwei Gruppen von gegenläufigen Spiralen erst mit der zunehmenden Entwicklung der Samen, den Sonnenblumenkernen, immer besser erkennbar wird. Zählt man die Anzahl der parallelen Spiralen so sind diese Zahlen angeblich zwei benachbarte Fibonaccizahlen:

Die Behauptung, dass bei den Sonnenblumen und anderen Korbblütlern die Röhrenblüten und dann auch die späteren Samen auf dem Korbboden eine gewisse spiralartige Anordnung erkennen lassen, scheint sich augenscheinlich mehr oder weniger immer wieder zu bestätigen. Allerdings ist das sichere Nachzählen der Spiralen schon sehr fehleranfällig und scheint auch häufig nur annähernd Fibonacci-Zahlen zu liefern.
Zu dem hoch interessanten Thema der Fibonacci-Zahlen oder Fibonacci-Folge gibt es eine Fülle von Exponaten und Experimenten in der Mathothek, und zwar unter mathematischen, künstlerischen und biologischen Gesichtspunkten. Wegen des engen mathematischen Zusammenhangs des Goldenen Schnitts mit der Fibonacci-Folge gilt das auch für diese besondere Proportionalität. An dieser Stelle soll nur auf die vielfältigen getrockneten und präparierten Zapfen, Früchte usw,, die in der Mathothek reichlich vorhanden sind, hingewiesen werden.



Eine weitere künstliche Pflanze in der Mathothek, die seit mehr als zehn Jahre dort unverdrossen blüht, zeigt die Zahl Fünf allerdings nicht punktsymmetrisch, sondern achsensymmetrisch (eine einzige Spiegelebene): Es handelt sich um eine der wohl am weitesten verbreiteten Zuchtorchideen, eine künstliche Phalaenopsis:

Auffällig erscheint mir, dass die Blüten mit einer einzigen Symmetrieachse bzw. Spiegelebene meist selbst mehr oder weniger senkrecht nach unten ausgerichtet sind, beispielsweise Stiefmütterchen, Veilchen, Wicken Salmonsiegel, Wiesensalbei, Augentrost, Echter Ehrenpreis, Blauer Eisenhut, Taubnessel u.v.a.
In dem bunten künstlichen Strauß befinden sich zur grünen Auffüllung auch künstliche verschiedene Farnwedel, die durch ihre mathematische fraktale Struktur interessant sind. Aber in der Mathothek gibt es auch gepresste, getrocknete und gerahmte natürliche Farne und Gräser mit verschiedenen natürlichen fraktalen Mustern:

„In gebührendem Abstand“ von dem üppigen künstlichen Strauß gibt es noch zwei kleine Sträußchen getrockneter Pflanzenteile in der Mathothek, „natürlich“ gut in den räumlichen Formen und Strukturen, aber ohne die leuchtenden Farben der ehemals lebenden Pflanzenteile zu betrachten, z.B. Kugelform und sich wiederholende Selbstähnlichkeit.


Überwiegend Blumen bzw. Blüten unserer Heimat (Gärten, Parks, Feld und Flur, botanischer Garten in Mainz) sind zwar nur zweidimensional, aber in voller natürlicher Farbenpracht in dem Fotoalbum Symmetrie in der Pflanzenwelt zu sehen, dass allen Besuchern der Mathothek zur Verfügung steht.


Der Kosmosnaturführer Was blüht im Frühling, Sommer, Herbst und Winter? von Eva und Wolfgang Dreyer steht in der Mathothek ebenfalls als „Antwortspender“ jedem Besucher zur Verfügung.

Bei all den guten Argumenten für die Aufnahme von künstlichen Blumen, den getrockneten und den fotografierten bleibt doch die Sehnsucht nach dem fehlenden sinnlichen Duft all dieser faszinierenden Flora. Wird der Wunsch nach Aromen und Düften zu groß, so hat die Mathothek auch hier ein faszinierendes Angebot zu machen: Eine große Sammlung Flakons.
