Die Entdeckung der Zentralperspektive revolutionierte die Malerei – Ein Exponat, das auch einen Kunstlehrer begeisterte

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Frühe Gemälde, die meist einen religiösen Inhalt haben, wirken auf uns heute oft flach und naiv, weil sie nur zwei Dimensionen zu benutzen scheinen. Wir vermissen aufgrund unserer heutigen Sehgewohnheiten die räumliche Tiefe der dargestellten Menschen, Gebäude, Landschaften usw. Erst in der Renaissance entdeckte man die Gesetze der perspektivischen Darstellung. Die Künstler (z.B. Leonardo da Vinci) der in Italien entstandenen revolutionären Bewegung der Renaissance – Aufbruch aus dem Mittelalter in die Neuzeit mit dem Rückgriff auf die Antike – untersuchten die Gesetze der Zentralprojektion und nutzten sie für ihre Werke. Der große deutsche Maler und Grafiker Albrecht Dürer studierte die Kunst dort, wo sie damals am fortschrittlichsten war und brachte die gewonnenen Erfahrungen nach Deutschland.

Später machte die Entdeckung der Fotografie die Frage der Perspektive und der Zentralprojektion zu einem grundlegenden Thema. Ein Fotoapparat bildet aufgrund seiner Konstruktion die dreidimensionale Situation immer zentralperspektivisch auf die Bildebene ab. Diese beiden Fotos in der Mathothek zeigen dies besonders deutlich: Der Fluchtpunkt, in dem sich alle geraden Fluchtlinien treffen, befindet sich in zentraler Lage der beiden Bilder. Beide Fotografien erzeugen beim Betrachter den starken  Eindruck der Räumlichkeit und Symmetrie dieser Passage und des Inneren der Bibliothek. Auf Fotografien und perspektivisch gestalteten Zeichnungen und Gemälden von Landschaften, Gebäuden usw. verlaufen Strecken, die in Wirklichkeit parallel zueinander sind, nicht parallel zueinander. Verlängert man diese Strecken, treffen sich die Verlängerungen alle in einem oder in zwei Punkten, die Fluchtpunkte des Bildes heißen. Dadurch entsteht ein guter räumlicher Eindruck.

Eines der ältesten Exponate der Mathothek, das mit der Hilfe älterer Schüler in einer Projektwoche entstand, vermittelt ohne lange Erklärungen, was es mit der Zentralprojektion und Perspektive auf sich hat:

Dieses Objekt besteht aus einer rechteckigen Sperrholzplatte, einer senkrecht dazu angebrachter Plexiglasscheibe und einem Ring an einem runden Holzstab, der ebenfalls auf der Platte senkrecht befestigt ist. Auf der Plexiglasscheibe sind eine rote Ellipse und ein grünes Gitter aus Vierecken gemalt, auf der Holzplatte befinden sich ein roter Kreis und ein grünes Gitter aus gleich großen Quadraten. Auf der Holzplatte verlaufen die grünen Linien des Gitters parallel, aber die grünen Linien auf der Scheibe schneiden sich alle in einem Punkt.

Das Erstaunen ist aber groß, wenn man mit einem Auge durch den Ring sieht, so decken sich die parallelen und die sich schneidenden grünen  Linien ebenso exakt wie der rote Kreis und die rote Ellipse!

Dieses Experiment ist so überraschend wie mathematisch erklärbar. Parallele Geraden heißen so, weil sie keinen Schnittpunkt besitzen und sich schneidende Geraden heißen so, weil sie einen Schnittpunkt haben. Sie sind also grundverschieden und doch sind sie in diesem Experiment ineinander überführbar. Es handelt sich hier um eine Projektion, und zwar eine Zentralprojektion. Die beschriebene beobachtete Deckung der Figuren erfolgt nur, wenn man mit einem Auge durch den Ring blickt. Jeder Sehstrahl, der durch den Augpunkt geht, der in der Mitte der Linse unseres Auges befindet, verbindet die beiden entsprechenden Punkte auf der waagrechten mit der senkrechten Zeichnung. Deswegen scheinen für uns von diesem besonderen Blickpunkt aus, parallele und sich schneidende Geraden sowie Kreis und Ellipse sich deckend und somit gleich. Ersetzen wir die Sehstrahlen durch Halbgeraden (=Strahlen) und den Mittelpunkt des Ringes durch Projektionszentrum, so haben wir bei diesem Experiment ein Modell einer Zentralprojektion vor uns. Dabei ist es gleichgültig, ob man den Kreis als Zentralprojektion einer Ellipse oder die Ellipse als Zentralprojektion eines Kreises ansehen. Nicht nur ein Kunstlehrer war bei seiner Begegnung mit diesem interaktiven Exponat der Mathothek völlig begeistert.

Die Erfahrungen mit diesem Experiment machen auch im Alltag für Perspektiven und Projektionen sensibel. Wir sehen oft, was wir nicht sehen. Beim Blick auf ein schräg vor uns stehendes Trinkglas mit kreisförmiger Öffnung sehen wir mit elliptischer Öffnung, ein Rechteck als Parallelogramm oder Quadrat. In den meisten Fällen korrigiert unser Gehirn die erste Vermutung, insbesondere dann, wenn wir uns bewegen – also die “Perspektive ändern”.

Die Perspektive öfter einmal zu ändern, ist aber nicht nur zum besseren Erkennen empfehlenswert, um der Wahrheit näherzukommen

Übrigens gibt es nicht nur die Zentralprojektion, sondern auch die Parallelprojektion. Dafür brauchen wir unendlichen Abstand vom zu projizierenden Gegenstand: Aus einer Zentralprojektion wird eine Parallelprojektion, wenn der Augpunkt (= das Projektionszentrum) ins Unendliche wandert und die Strahlen parallel sind. Schattenbilder bei Sonnenschein sind fast Parallelprojektionen von entsprechenden Gegenständen.

Diejenige mathematische Disziplin, die sich mit Eigenschaften beschäftigt, die bei Projektionen invariant bleiben, ist die projektive Geometrie. Das obige Experiment legt es nahe, dass es in dieser geometrischen Disziplin keine parallelen Geraden gibt. Während in der euklidischen Geometrie zwei verschiedene Punkte immer genau eine Verbindungsgerade haben, besitzen zwei verschiedene Geraden nicht immer genau einen Schnittpunkt,weil sie auch parallel sein können, also gar keinen Schnittpunkt besitzen. In der projektiven Geometrie gilt ein elegantes Dualitätsprinzip zwischen Punkten und Geraden, wie beispielsweise “zwei verschiedene Punkte besitzen immer genau eine Verbindungsgerade” und “zwei verschiedene Geraden besitzen immer genau einen Schnittpunkt”. Tauscht man in einer wahren Aussage “Punkt” und “Gerade” sowie “schneiden” und “verbinden” gegeneinander aus, so erhält man wieder eine wahre Aussage. 

In der projektiven Geometrie sind auch alle Kegelschnitte, wie oben am Beispiel von Kreis und Ellipse gesehen,  zentralperspektivisch gleich. Davon kann man sich mit folgendem Exponat der Mathothek überzeugen:

Besonders faszinierend ist das Projektionsspiel mit dem Lichtkegel einer Taschenlampe an einer weißen Wand:

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