Antinomien – Ein Barbier und die Grundlagenkrise der Mathematik

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In der Mathothek gibt es ein Kästchen mit Plastikkärtchen in der Größe von Postkarten, auf denen Aussagen stehen, von denen einige sehr alt und noch immer gebräuchlich sind. Es handelt sich bei allen Beispielen um Antinomien, also um Sätze, die in sich widersprüchlich sind, oder auch um korrekte Aussagen, die sich logisch widersprechen.

Eine bekannte Antinomie stammt von dem kretischen Philosophen Epimenides (Ende des 7. Jahrhunderts). Es ist der Satz: „Alle Kreter lügen.“ Die Wahrheit oder Falschheit dieser Aussage kann logisch nicht entschieden werden. Ist der Satz wahr, dann hätte Epimenides deswegen gelogen, weil er selbst ein Gegenbeispiel wäre. Der Satz von oben ist dann falsch. Ist der Satz aber falsch, so folgt daraus, dass es wenigstens einen wahrheitsliebenden Kreter geben muss. Epimenides hat dann auch gelogen. Der Widerspruch entsteht hier dadurch, dass der Informant selbst ein Kreter ist. Daher trifft die Behauptung auch auf ihn selbst zu.

Auch in dem Sokrates zugeschriebenen Satz: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ steckt ein logischer Widerspruch. Wenn jemand nichts weiß, kann er auch nicht wissen, dass er nichts weiß! Aber es führt auch die Annahme, dass die Aussage, nichts zu wissen, wahr ist, zum logischen Widerspruch, da man damit doch etwas weiß. Die Logik tanzt Walzer!

Nicht auflösbar ist auch der Widerspruch der beiden Sätze: „Der Satz auf der Rückseite ist falsch.“ auf der Vorderseite und der Satz auf der Rückseite: „Der Satz auf der Vorderseite ist wahr.“ Nehmen wir einmal an, dass der Satz auf der Vorderseite wahr ist, dann bekommen wir einen Widerspruch zu unserer Annahme, dass die Aussage auf der Vorderseite wahr ist. Genauso bekommen wir einen Widerspruch, wenn wir davon ausgehen, dass die Aussage auf der Vorderseite falsch ist, dann wäre der Satz auf der Rückseite wahr und es besteht ein Widerspruch zu unserer Annahme. In beiden möglichen Fällen gelangen wir zu einem Widerspruch, d.h. eine bestimmte Aussage und ihre Verneinung müssten wahr sein. Die   Aussagen auf der Vorderseite und der Rückseite der Karte können nicht beide gleichzeitig wahr sein.

„Keine Regel ohne Ausnahme!“ ist eine oft verwendete kurze Regel für Regeln, die im Alltag ziemlich häufig benutzt wird und im allgemeinen Sprachgebrauch problemlos verstanden wird. Dabei ist diese „Superregel“ ein Musterbeispiel für eine Antinomie, d.h. einen nicht auflösbaren Widerspruch in sich.

 Diese Regel besagt, dass alle Regeln Ausnahmen besitzen. Also hat auch diese Regel mindestens eine Ausnahme: Es gibt daher auch Regeln ganz ohne Ausnahmen. Die Behauptung „Keine Regel ohne Ausnahme.“ und die Aussage „Es gibt auch Regeln, die keine Ausnahmen haben.“ widersprechen sich, können nicht gleichzeitig wahr sein.

Alle vier Beispiele haben „dasselbe Strickmuster“: Die vorliegende Aussage bezieht sich auf eine Menge von Aussagen, zu denen auch diese Aussage selbst gehört. Die Behauptung bezieht sich auch auf sich selbst. Genau diese Selbst- oder auch Rückbezüglichkeit führt zum Widerspruch, zur Antinomie.

Warum machen diese Antinomien in ihrem alltäglichen Auftritt keine Probleme? Weil wir diese problematische Selbstbezüglichkeit ausblenden! Wir fragen keinen Kreter, ob alle Kreter lügen, oder mindestens beschränken wir uns auf die Frage, ob die anderen Kreter die Wahrheit sagen. Was ich weiß oder nicht weiß bezieht sich nicht auf das gesamte Wissen, das ich habe oder nicht. Bei diesen Aussagen über – andere Aussagen – handelt es sich um Metaaussagen.

Bei dem Beispiel „Wenn dieser Satz wahr ist, dann ist die Erde eine Scheibe.“ ist es nicht ganz so einfach. Dass der Teilsatz „ist die Erde eine Scheibe“ falsch ist, besagt noch nichts über die Wahrheit des gesamten Satzes.

Wann ist ein Satz der Form „Wenn A, dann B“ wahr oder falsch? In der Mathematik – aber auch im Alltag – ist ein solcher Satz nur falsch, wenn A wahr und B falsch ist. Der zweite Teilsatz B ist natürlich falsch. Das Problem steckt nun darin, dass sich A auf den Wahrheitswert des gesamten Satzes bezieht. Nehmen wir zuerst an, dass der ganze Satz wahr ist, dann ist auch A wahr. Also ist A wahr und B ist falsch und damit haben wir einen Widerspruch, weil dann der gesamte Satz falsch wäre. Nehmen wir an, dass der gesamte Satz falsch ist, dann ist auch A falsch und der gesamte Satz wäre dann wahr, also bekommen wir auch im zweiten möglichen Fall einen Widerspruch. Auch hier ist die Rückbezüglichkeit das logische Problem.

„Wenn Du das schon beim ersten Durchlesen verstanden hast, fresse ich einen Besen!“ Das ist zwar keine Antinomie, aber ein gutes Alltagsbeispiel für ein immer (fast!) haltbares Versprechen (wahre Aussage). Da ich mir sicher bin, dass die Aussage A=“Du hast das schon beim ersten Durchlesen verstanden.“ falsch ist, bin ich sicher, den Besen – mit oder ohne Sahne – nicht fressen zu müssen. Die „Wenn-A-dann-B-Aussage“ ist daher immer wahr.

Das nächste Exponat ist mit den obigen Antinomien eng verwandt und mathematikgeschichtlich von Bedeutung. Es besteht aus zahlreichen Visitenkarten und einem geschnitzten Holzkästchen mit zwei Fächern. Alle diese Visitenkarten stammen von männlichen Einwohnern eines Ortes, nämlich 96531 Fuchshausen. Der Barbier, der auch in Fuchshausen wohnt, behauptet, dass er alle Männer in Fuchshausen rasiert, die sich nicht selbst rasieren, keiner aus Fuchshausen geht zu einem anderen Barbier außerhalb von Fuchshausen. Alle anderen männlichen Einwohner von Fuchshausen rasieren sich selbst. Keiner in Fuchshausen trägt einen Bart.

Soweit ist die Angelegenheit eher langweilig und die folgende Aufgabe erscheint sehr leicht: Ordne die Visitenkarten aller Männer von Fuchshausen in das Kästchen ein, und zwar links die Namen derjenigen, die sich selbst rasieren, und rechts die Visitenkarten von denen, die vom Barbier rasiert werden.

Alles ganz einfach – aber dann kommt die letzte Visitenkarte. Sie trägt den Namen des Barbiers: Karsten Schwertfeger. In welchen Teil des Kästchens, auf welchen Stapel musst Du sie legen?

Natürlich rasiert Herr Schwertfeger sich selbst. Aber er ist ja der Barbier, deswegen rasiert ihn auch der Barbier. Wir haben eine Antinomie, ein Widerspruch in sich.

Am Anfang des 20.-Jahrhunderts hatten die führenden  Mathematiker sich große Ziele vorgenommen, u. a. wollte man beweisen, dass die Mathematik widerspruchsfrei ist. Dazu wollten die beiden Mathematiker Bertrand Russell und Alfred North Withehead die Mengenlehre als Fundament nehmen und aus wenigen Axiomen alle anderen Bereiche der Mathematik auf logischem Wege herleiten. Das Unternehmen scheiterte an einer Antinomie, die russellsche Antomie genannt wurde. Für sie ist das Beispiel mit dem Barbier eine Illustration. Es ging um den Begriff der Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten, und die Frage, ob diese Menge sich selbst als Element enthält. „Menge“ ist ein Grundbegriff, der nicht weiter abgeleitet oder definiert werden kann. Eine solche Menge kann durch Benennen der Elemente, die zu ihr gehören, oder durch eine Eigenschaft der Elemente, die entscheidet, ob ein Element zu dieser Menge gehört oder nicht, festgelegt werden.

Bei M der Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten,   ist die definierende Eigenschaft „sich nicht selbst als Element zu enthalten“. Fragt man nun, ob diese Menge M sich selbst als Element enthält, so kommt es zum Widerspruch: Angenommen, sie enthält sich selbst als Element, dann hat sie ja die Eigenschaft, sich nicht selbst als Element zu enthalten. Widerspruch! Angenommen, sie enthält sich nicht selbst als Element, ja dann erfüllt sie gerade die Eigenschaft, um ein Element dieser Menge M zu sein.

Wenn irgendeine Menge A sich nicht als Element enthält, schreiben wir A∉A. M ist die Menge, die alle Mengen enthält, die sich nicht selbst als Element enthalten, also M={A/A∉A}. Betrachten wir nun die beiden Möglichkeiten M∈M und M∉M.

Ist M∈M wahr, dann folgt nach der Definition von M, dass M∉M richtig ist.

Ist M∉M wahr, dann folgt daraus, dass M die verlangten Eigenschaften erfüllt und M∈M richtig ist.

Das ist natürlich ein logisch nicht auflösbarer Widerspruch.

Damit entstand ein grundlegendes Problem beim Versuch, die Widerspruchsfreiheit der Mathematik zu beweisen. Bertrand Russell dachte sich zum leichteren Verständnis der hier vorliegenden Antinomie die Verkleidung mit dem Barbier und seinen Kunden aus.

Nach einer Verschnaufpause kannst Du Dir die „Gehirnzähne“ noch an folgender Frage ausbeißen: „Ist der Satz – Dieser Satz ist falsch. – wahr oder falsch?“

Im Gegensatz zu einer Antinomie oder zu einem Paradoxon ist eine Paradoxie eine Aussage oder eine Erklärung, die auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen, aber doch auf eine höhere Wahrheit hinweisen. Exponate zu solchen Behauptungen und Beweisen, die der Intuition zunächst widersprechen, gibt es in der Mathothek eine ganze Reihe: „Das Ziegenproblem“, „Verlängerung des Äquators“, „Das verschwundene Quadrat“ usw.

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