Gibt es doch einen Königsweg zur Mathematik? – Mathematik zum Anfassen und Experimentieren in der Mathothek

Nach über zwei Jahrzehnten des Auf- und Ausbaus der Mathothek sowie Erfahrungen mit und Beobachtungen bei ihren Besuchern, angeregt durch das Buch Wie man in eine Seifenblase schlüpft von Albrecht Beutelspacher, das den Untertitel Die Welt der Mathematik in 100 Experimenten trägt, ist es an der Zeit, ein Resümee dieses anschaulichen und interaktiven Weges zur Mathematik zu versuchen.

In seinem sehr lesenswerten Buch beschreibt der Gründer und Leiter des Mathematikums in Gießen – “dem ältesten und größten Mitmach-Museum der Welt ausschließlich für Mathematik” – die Besonderheiten des Experimentes in der Mathematik gegenüber den Experimenten in den Naturwissenschaften.

Im Gegensatz zu den Naturwissenschaften ist in der Mathematik das Experiment kein Beweismittel, also nicht dazu geeignet zu entscheiden, ob eine mathematische Aussage wahr oder falsch ist. Diese Entscheidung fällt aufgrund klarer Definitionen der Begriffe und ihrer Beziehungen, und zwar rein mit logischen Argumenten.

Auf dem Weg dahin leisten uns die Anschauung und auch mathematische Experimente wichtige und hilfreiche Dienste. Sie lassen uns die Ideen vorstellbar werden oder Vorstellungen zu abstrakten Begriffen werden. Natürlich gilt das in ganz besonderen Maße für Lernende, die ihren Zugang zum mathematischen Denken noch suchen müssen. Niemand beginnt das Denken und Erkennen nur mit abstrakten Begriffen und Relationen.

Die sehr große Menge an Exponaten der Mathothek – mehr als 1.000 – bietet ein reiches und vielfältiges Angebot für eine Fülle mathematischer Experimente, um mit ihrer Hilfe anschaulich und handelnd zu mathematischen Zusammenhängen und Erkenntnissen zu gelangen. Ich überrasche Besucher der Mathothek oft mit der Behauptung, dass es in der Mathothek gar keine Mathematik gäbe, sondern erst mit der Frage: “Ist das immer so?” oder “Warum ist das so?” und der Beschreibung des “Was” entsteht die eigentliche Mathothek. Viele Fragen, Vermutungen und Überlegungen, die sich aus dem sinnvollen “Spielen” oder Experimentieren mit den Objekten der Mathothek entwickeln, können dann, insbesondere wenn sie mit anderen durch kommutative Auseinandersetzung gesichert werden können, zu mehr und besseren Welterkenntnissen führen.

Im Folgenden möchte ich noch eine größere Anzahl an Argumenten für diese Art des Zugangs zur Mathematik angeben, die mir im Laufe Jahre aufgefallen sind:

  • Es wird hier kein Stoff abgehandelt, kein bloß abfragbares Wissen vermittelt
  • Der natürliche Spieltrieb, die gesunde Neugierde und das Verstehenwollen werden gefördert und genutzt
  • Denkprozesse werden angestoßen durch Tun und Beobachten, Seh- und Tastsinn werden geschult und die Ergebnisse reflektiert. Erfahrungen auf der Handlungsebene werden zu Vorstellungen und diese zu Ideen und Begriffen. Im Wechselspiel zwischen Handeln mit Objekten und mentalen Operationen wird Mathematik begreifbar
  • Es geht hier auch nicht um die Meinung des Lehrers oder einer anderen Autorität, sondern um die überprüfbare eigene Erkenntnis von wahr oder falsch
  • Die fast überwältigende Fülle der möglichen Experimente in der Mathothek ermöglichen dem Besucher nach Bedarf, Neigung und Vorkenntnis den für ihn geeigneten Zugang zur Mathematik zu finden
  • Zu einem bestimmten Thema gibt es meistens mehrere Exponate, oft aus ganz verschiedenen Gebieten, sodass der Besucher sich einem bestimmten Thema aus verschiedenen Richtungen und mit unterschiedlichen Perspektiven nähern kann
  • Die nötige mathematische Abstraktion beim Experimentieren wird durch das Angebot mehrerer Exponate zu einem Begriff oder Thema erleichtert bzw. überhaupt erst ermöglicht
  • Die Fähigkeit zum Transfer von Erfahrungen und Erkenntnissen wird ebenfalls durch geeignete Experimentgruppen gefördert
  • Die Mathothek ist auch eine Sehschule. Viele sehr verschiedene Exponate schulen das Erkennen von mathematischen Mustern und Strukturen und damit auch das Auffinden von Lösungen
  • Die ästhetische und ansprechende Gestaltung der Objekte, bei der viele, gerade auch jüngere Besucher und Helfer mitgewirkt haben, verführt nach dem Eintritt in die Mathothek zum Experimentieren. Dabei werden im Verlauf der Exploration die konkreten Farben, Formen und Ausmaße der jeweiligen Objekte zunehmend als nicht wesentlich für die mathematischen Beobachtungen erkannt.
  • Der aktive Umgang mit den Objekten in der als angenehm und einladend empfundenen Umgebung führt bei den Besuchern zu einer konzentrierten Beschäftigung mit dem jeweiligen Experiment
  • Häufig schafft es diese Atmosphäre in der Mathothek daher auch, dass sich Schüler auch meditativ mit geeigneten Objekten beschäftigen und sich innerlich beruhigen
  • Erstaunlich ist auch, wie viele Schüler sich in der Mathothek auf ihre Experimente konzentrieren können, und zwar auch dann, wenn dieser kleine Raum durch viele gleichzeitig anwesende Besucher eigentlich überfüllt ist
  • Es gilt aber auch, dass sich Freunde in der Mathothek für besondere Experimente interessieren und zusammenfinden, aber auch sich alters- und geschlechtsübergreifend zusammentun oder auch sich bis eben fremde Gruppen neu aufteilen, um zusammen zu experimentieren. Die soziale Komponente der Mathothek hat mich äußerst positiv überrascht
  • Manche Herausforderung in der Mathothek ist bisher nur im Team geschultert worden. Dabei lassen sich die Mechanismen guter Gruppenarbeit durch “Learning by Doing” erfahren. Hier eines der besten Beispiele in der Mathothek hierfür: die Zusammensetzung des perfekten Quadrats:
  • Das Angebot zum selbstständigen und selbstbestimmten Lernen wird als Alternative zum häufigen Klassenunterricht sehr positiv genossen. Das gilt auch für Lernformen, beispielsweise dem Stationenlernen, Teamteaching und ähnlichen Angeboten für Lerngruppen
  • Die Mathothek ist keine Methode, aber verschiedene Unterrichtsmethoden lassen sich auch mit dem Lernen in der Mathothek verbinden, z.B. das Stationenlernen, Teamteaching, Referate mit zur Verfügung gestellten Experimenten, thematische Ausstellungen, thematische Führungen u.v.m.
  • Hierher gehören auch die vielfältigen Möglichkeiten, die die Mathothek mit der breiten Fülle ihrer Angebote für das fächerübergreifende und fächerverbindende Lernen und Forschen bietet
  • Die manchmal unvermeidlichen kleinen Mängel mancher der meist nicht professionell hergestellten Objekte gewinnen dadurch nicht nur an Charme, sondern auch noch an didaktischem Wert: Auch die maximale Präzession bei der Herstellung der Exponate lieferte keinen zusätzlichen Vorteil bei der Abstraktion zu der dahinterstehenden Idee und zur logischen Argumentation. Das Objekt selbst gewinnt durch größere Präzision keinen Zuwachs an Beweiskraft
  • Eine große Stärke der Mathothek besteht auch darin, dass mit ihren Exponaten immer wieder auf die Mathematik im Alltag und in der jeweiligen Umgebung aufmerksam gemacht wird
  • Zwar gibt es in der Mathothek für das Verhalten sieben Regeln, aber bisher wurden diese weitgehend akzeptiert. Nach Absprachen gibt es jede Menge Möglichkeiten für besondere Nutzungswünsche
  • Obwohl in der Mathothek jegliche sportlichen Aktivitäten strengstens untersagt sind, gibt es doch auch Parallelen: Sich Herausforderungen suchen und stellen, Spaß an der Lösung haben und die tiefe Befriedigung genießen, die eintritt, wenn die Aufgabe gelöst und das Ziel erreicht ist

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